Das Kindeswohl

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Vor ein paar Wochen durfte ich Alexandra Widmer von Stark und alleinerziehend ein Interview zu meinem Leben als Alleinerziehende geben. Seit dieser Woche ist das Interview online. Auf der Facebook-Seite von Stark und alleinerziehend gab es dazu eine Reaktion, die ich interessant fand und die mich inspiriert hat, diesen Text zu schreiben.

Es geht um die Frage, was Kindeswohl ist (unabhängig von dem Begriff in der deutschen Rechtsprechung), ob man das verallgemeinern kann, ob uns da Studien weiterhelfen und wie die Realität tatsächlich ist. Es geht auch um die Frage, worunter Kinder leiden oder wo wir nur etwas in sie hineindenken, was mit ihrer eigenen Realität und ihren Gefühlen nichts zu tun hat.

Sorgen der Eltern

Vor und nach einer Trennung machen sich die Eltern zum Beispiel häufig viele Sorgen, wie das Kind mit dieser Situation zurecht kommt, welche Folgen die Trennung für das Kind hat oder ob evtentuell vorhandene Auffälligkeiten mit der Trennung zusammenhängen. Sogar Frauen oder Männer, die mit ihrem Partner eine Gewaltbeziehung erleben, versuchen lange die Beziehung zu retten, weil sie Angst vor den Folgen für ihre Kinder haben.

Nach einer Trennung werden dann Überlegungen angestellt, wie zukünftig der Kontakt zu beiden Elternteilen erhalten bleiben kann, wie das optimalerweise organisiert wird und wie jeder zu seinem Recht kommt. Gerade zu letzterem gibt es im Netz teilweise haarsträubende Streitereien zwischen Vätern und Müttern. In diesen Diskussionen geht es nach meiner Beobachtung leider in seltenen Fällen um das Kind, das zwischen den Stühlen steht. Meist wird der Kampf aus der Beziehung mit Hilfe des Kindes weitergeführt und die Elterninteressen stehen im Vordergrund.

Studien gibt es zu diesem Thema eine ganze Menge, die das Kindeswohl in unterschiedlicher Form auslegen. Mal heißt es, der Kontakt zum Vater muss auf jeden Fall erhalten bleiben und es sollte optimalerweise eine 50/50-Teilung der Betreuung geben. An anderer Stelle wiederum wird erklärt, dass der Kontakt zum Vater lange nicht so wichtig ist wie angenommen. Mal wird Müttern das Parental Alienation Syndrome unterstellt, wenn ihre Kinder nicht zum Vater wollen. Mal unterstellen Mütter den Vätern Kindesmisshandlung und tun alles, damit der Kontakt einschläft.

Jeder zückt in diesem Kampf die gerade passende Studie als Waffe.
Insofern: es ist müßig weiter darüber zu diskutieren, wer hier ultimativ Recht hat.

Bedürfnisse des Kindes

Mich interessieren mittlerweile vor allem die Erfahrungen des realen Lebens und die Aussagen der Kinder selbst. Und die Erfahrung mit meinen eigenen Kindern und mein eigenes Leben als Trennungskind haben mich folgendes gelehrt:

Kindeswohl ist eine sehr individuelle Sache!

Interessanterweise wird insbesondere nach einer Trennung nur selten auf die tatsächlichen Bedürfnisse des jeweiligen Kindes geschaut. Stattdessen werden Bücher gewälzt oder Experten um ihre Fachmeinung gebeten, die das Kind vorher noch nie gesehen haben. Gespräche beim Jugendamt finden häufig nur zwischen den Eltern statt. Auch in gerichtlichen Entscheidungen über die Zukunft des Kindes und die Gestaltung des Umgangs, kommt das Kind – wenn überhaupt – nur am Rande zu Wort.

Gerichtliche Verhandlungen über den Umgang werden erfahrungsgemäss besonders von sowieso schon sehr zerstrittenen Eltern geführt, die allein keine Regelung mehr finden können. Die Folge ist, dass eine verpflichtende Umgangsregelung festgelegt wird, die teilweise meilenweit von dem entfernt ist, was gut für das Kind wäre. Carola Fuchs hat dazu ein sehr erhellendes Buch geschrieben. Die Folge kann sein, dass ein Kind zu einem regelmässigen Umgang mit dem anderen Elternteil gezwungen wird (inklusive Übernachtungen und längeren Aufenthalten während der Ferien), obwohl es das so gar nicht will. Oder die Folge ist, dass das Kind den anderen Elternteil viel zu selten sieht – nur alle zwei Wochen – obwohl es sich das ganz anders wünscht. Wenn der entfernte Elternteil sich dann auch in der Zwischenzeit wenig kümmert, nicht anruft usw. kann das Kind sehr darunter leiden.

Ich empfinde es als sehr fragwürdig, wenn nicht gar absurd, dass in so einer wichtigen Sache kaum genauer hingesehen und individueller entschieden wird. Wie war die Lebenssituation des Kindes vor der Trennung? Zu welchem Elternteil besteht evtl. eine engere Bindung, weil der- oder diejenige sich am meisten gekümmert hat? Wie wichtig ist das bisherige Lebensumfeld für das Kind? Was hat zur Trennung geführt? Was sagt das Kind selbst zu seinen Wünschen?

DAs BEste für’s Kind

Es wird so frank und frei daher behauptet, dass Kinder beide Eltern brauchen oder dass sie am liebsten hätten, dass die Eltern zusammenbleiben. Hier wird einmal von einer idealen Familiensituation ausgegangen, in der beide Eltern sich liebevoll um ihr Kind kümmern. Zum anderen wird hier einfach vorausgesetzt, dass das klassische Familienmodell Vater, Mutter, Kind für Kinder am besten ist – egal, wie es womöglich in dieser Familie zugeht.

Ich finde, es ist an der Zeit, dies alles mal gehörig in Frage zu stellen.

Heutige Familien sind um einiges vielfältiger und bunter als das klassische Modell. Es gibt Ein-Eltern-Familien, Patchwork- und Stieffamilien, Familien mit einem schwulen oder lesbischen Elternpaar, Mehrgenerationen-Wohnprojekte, in denen sich viele um die Kinder kümmern und viele Lebensformen mehr.

Kinder wachsen in die Bilder hinein, die wir als Gesellschaft für sie malen. Von sich aus hat ein Kind kein bestimmtes Modell im Kopf, wie eine Familie aussieht. Wenn es ein solch allgemeingültiges Modell gäbe, würden Kinder auf der ganzen Welt in gleicher Weise aufwachsen. Das tun sie aber nicht.

Es gibt Kulturen, in denen lange kein so großes Gewese darum gemacht wird, wer denn jetzt der leibliche Vater oder die leibliche Mutter ist. Das Kind ist von Anfang an Teil der Gruppe und wird von der Gruppe betreut und erzogen, von Männern und Frauen, anderen Kindern oder alten Menschen.Der Mythos, den wir um die klassische Familie machen, ist in Wirklichkeit ein gesellschaftliches Konstrukt.

In all dem kann doch eigentlich nur eine einzige Frage von Bedeutung sein:
Was ist für das jeweilige Kind die bestmögliche Regelung und was sagt es selbst dazu?

Und weiter: In welchem Umfeld besteht die größte Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind glücklich und geliebt aufwächst? Welches Umfeld und welche Menschen bringen die Energie und Fähigkeit auf, sich dauerhaft und verlässlich um das Kind zu kümmern?

Wer fragt das Kind?

Meine Erfahrung ist, dass Kinder schon sehr früh recht deutlich sagen können, was sie wollen oder nicht wollen. Wenn sie nicht in ihren Bedürfnissen ignoriert wurden, haben sie einen guten Zugang zu ihren Gefühlen und Wünschen. Aber diese sehen häufig ganz anders aus, als wir das meinen. Zumindest ist das meine Erfahrung. Nachdem ich mich lange, lange Jahre an dem orientiert habe, was in irgendwelchen schlauen Büchern oder Internetseiten zu lesen ist, habe ich an einem bestimmten Punkt angefangen, meine Kinder genauer zu beobachten und ihnen wirklich zuzuhören. Ich habe meine Sorgen und Vorurteile beiseite geschoben und begonnen, sie mit offenen Augen und offenen Ohren wahrzunehmen.

Ich habe gelernt, dass das, was in den Büchern stand, nur zum Teil oder gar nicht zutraf. Jedes kleine Zipperlein, jede Auffälligkeit und jedes Problem brachte ich mit der Trennung in Zusammenhang. Ich lief jahrelang mit großen Sorgen und Ängsten um mein Kind durch die Welt und mit einem immensen Schuldgefühl, dass ich ihm keine „normale“ Familie ermöglichte. Dass die Probleme meines Kindes aus einer ganz anderen Richtung kamen – u.a. auch daher, dass ich mich vor lauter Sorgen kaum noch richtig kümmern konnte – dämmerte mir erst ganz langsam und allmählich.

Am Ende merkte ich, dass ich innerlich einen Kampf gegen mein Modell von Familie führte, dass ich darunter litt, dass unsere Familie kein idyllisches Bausparversicherungsfoto abgab. Mit dem Wohlergehen meiner Kinder hatte das nicht sooo viel zu tun, denn sie hatten diese Bilder noch nicht so stark verinnerlicht. Der Kampf mit diesen Bildern fängt erst dort an, wo Erwachsene beginnen, Vergleiche anzustellen oder zu bewerten und dies das Kind spüren lassen. Je mehr also die Kinder mit den Bildern der Erwachsenen oder der Gesellschaft konfrontiert werden und je anfälliger sie dafür sind (oder dahin erzogen werden), „normal“ sein zu wollen, desto mehr beginnen sie zu leiden. Wenn sie aber stattdessen von Anfang an lernen, dass es viele verschiedene Lebensmodelle und Familienformen gibt und dass es hier kein „besser“ oder „schlechter“ gibt, desto glücklicher und wohler können sie sich in ihrem jeweiligen Lebensmodell fühlen.

Ich frage mich immer öfter, ob nur ich ein Problem aus einer Situation mache, weil ich meine, dass ein Problem da sein müsste, oder ob mein Kind wirklich ein ernsthaftes Problem hat. Als eines meiner Kinder mal in therapeutischer Behandlung war, brachte der Therapeut von Anfang an all die vorhandenen Schwierigkeiten in Zusammenhang mit der Trennung vom Vater. Ich marterte mich daraufhin weiter mit meinen schon so gewohnten Schuldgefühlen. Irgendwann sagte mein Sohn selbst zum Therapeuten, dass er jetzt mal aufhören könne mit dem Thema. Denn das wäre für ihn doch alles normal und gewohnt. Er kenne es ja nicht anders (er war 1 Jahr alt bei der Trennung). Er bräuchte in der Richtung keine Hilfe. Der Therapeut und ich selbst lagen also völlig falsch in unserem Standardbild des trennungsgeschädigten Kindes.

Keine Angst. Das Leben ändert sich

Ich halte nichts davon, den Lauf der Dinge aufzuhalten oder vor der Realität die Augen zu verschließen. Ich selbst habe erfahren, wie unerträglich es sein kann, wenn die eigenen Eltern versuchen, eine Beziehung zu erhalten, die für alle spürbar tot und vergiftet ist. Für die Kinder zusammenzubleiben halte ich für die schlechteste Lösung. Ich habe meine Eltern innerlich gebeten sich zu trennen, weil ich das Leben in einer Lüge schlimmer fand, als getrennte Eltern, die ehrlich zu ihren Gefühlen stehen. Sicherlich sollte man sich eine Trennung mit Kindern nicht zu leicht machen. Aber es gibt Beziehungen, die man nicht „gesundtherapieren“ kann.

Ich wünsche mir, dass getrennte Eltern (und die mitentscheidenden Institutionen) ihre Machtkämpfe und ihre Sorgen und all die Spezialistenratschläge mal zurückstellen, um einfach mal zu schauen, wie es dem Kind vor ihnen tatsächlich geht und was sich das Kind wirklich wünscht.

Es gibt Elternbeziehungen, bei denen die Trennung für Kinder eine Erleichterung sein kann und eine Verbesserung ihrer Lebenssituation darstellt, auch wenn vielleicht zum Beispiel weniger Geld da ist. Es gibt Trennungen, wo die Kinder zu einem Elternteil keinen Kontakt mehr wollen, oder wo sie Zeit brauchen und ihren eigenen Weg, um wieder Vertrauen aufzubauen. Es gibt auch Fälle, wo Kinder eine Zeit ihres Lebens bei der Mutter ihren Hauptwohnsitz haben und später zum Vater wechseln, weil es besser passt für sie.

Auf alle Fälle ist es absurd, dass Kinder über Gerichtsentscheidungen in ein Umgangskorsett gezwängt werden können, das ihren wahren Bedürfnissen nicht entspricht. Auch Kinder sind Menschen, und zwar sehr sensible und wache. Sie können sogar schon mit zwei Jahren sehr deutlich ihre Bedürfnisse äußern und diese sollten möglichst respektiert und nicht wegen Umgangsbeschlüssen übergangen werden können. Es sollte oberste Priorität bei Entscheidungen zum Kindeswohl sein, genau auf die individuelle Situation des Kindes zu schauen und Umgangsvereinbarungen flexibel zu gestalten. So können sie den wirklichen Interessen des Kindes möglichst nah kommen.

4 Kommentar

  1. Vielen Dank für diesen erfrischend klaren und undogmatischen Standpunkt. Ich freue mich, Deinen Blog gefunden zu haben und vielleicht weitere erhellende Artikel zu diesem und verwandten Themen von Dir zu lesen. Gerade Frauen in mehrfach belastenden Situationen kommen selten zu Wort und wenn, dann sind sie häufig so unsortiert und unsachlich in Ihren Äußerungen, dass sie dem Vorurteil der verweigernden und für die kindlichen Bedürfnisse Blinden Futter geben. Es gibt kein Patentrezept in diesem Thema und die einzig richtige Lösung kann immer nur eine individuelle sein. Dazu muss allerdings erstmal ein neues Grundverständnis vom viel missbrauchten Begriff des Kindeswohls in den richtigen Köpfen entstehen. Ist es denn nicht paradox, einerseits Vielfalt in Familien- und Beziehungsmodellen zu predigen und dann andererseits mit massivem Druck, auf Grundlage von Studien aus anderen Generationen zum Teil, eine „klassische“ Familienkonstellation zu erzwingen? Hier ist, nach meiner Auffassung, die einfachste Lösung wieder einmal die beste: Hinschauen. Das kostet viel Geld. Aber es ist die beste Investition in die Zukunft einer gesunden Gesellschaft. Auf mehr zu Deinen Gedanken,
    Jelena

    • Liebe Jelena,

      es freut mich sehr, dass mein Blog und dieser Beitrag bei Dir so großen Anklang gefunden hat. 😉
      Ja, gerade über solche Themen muss viel differenzierter gesprochen und geschrieben werden – und zwar aus der Erfahrung und nicht aus der Forschungsexpertise. Warum meinst Du, dass das mehr Geld kostet? Ich glaube im Gegenteil, dass viel Geld gespart werden könnte, weil einigen Gerichtsverfahren der Boden entzogen würde.

      Herzliche Grüße
      Rona

  2. Liebe Rona,
    ich fand deinen Artikel sehr interessant. Aber ich stimme nicht zu, dass man die Meinung der Kinder in jedem Fall zu Rate ziehen sollte. Denn gerade kleine Kinder sind noch nicht in der Lage, zu artikulieren was sie wollen. Oder sie wissen es auch noch gar nicht genau. Vor allem, wenn es schwierig ist, Gewalt im Spiel ist, dann die Frage, wem mache ich es recht, verliere ich Mama oder Papa, wenn ich dies oder jenes sage… das ist äußerst komplex und führt nicht immer zu der Lösung, die dem Kind gut tut! Gerade in Gewaltbeziehungen sind wir dafür verantwortlich das Kind zu schützen!

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