Der Opferstatus Erlebtes Unrecht (an)erkennen

InAlleinerziehend, Beziehungsgewalt, Familienbild, Partnerschaft, Trennung
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Ich las vor ein paar Tagen einen Artikel in dem es um Frauen ging, die sich angeblich gern zum Opfer machen (lassen) und sich in der Opferhaltung ausruhen. Eine ähnliche Diskussion führte ich vor kurzem mit mehreren Frauen auf Facebook. Auch hier ging es darum, wie sehr das Bewußtsein ein Opfer zu sein, lähmen kann. Am Ende drehte sich die Diskussion um Verantwortung und Schuld.

Diese Haltung ist nicht neu. Sie erscheint auch gern mal im Zusammenhang mit victim blaming. Es ist eine der vielen Möglichkeiten, Menschen, die über Gewalterfahrungen sprechen, zum Schweigen zu bringen.

Ich möchte eine andere Seite aufzeigen, die ich selbst als wichtig erfahren habe und die scheinbar auch für einige andere Menschen hilfreich ist, die Opfer von Gewalt wurden:

Um aus einer Missbrauchs- und Gewaltbeziehung auszubrechen, kann es äußerst hilfreich sein, sich als Opfer zu erkennen und anzuerkennen. Dieser Erkenntnisschritt ist häufig ganz besonders schwer für Betroffene, denn es gibt nicht so viele Menschen, die sich gern im Opferstatus ausruhen und diesen Zustand angenehm finden. Es ist ein Unterschied, ob ich sage „Ich bin so schwach. Ich kann sowieso nichts tun. Daher lasse ich alles wie es ist.“ oder ob ich sage „Ich erkenne, dass ich zum Opfer geworden bin. Mir wurde und wird Unrecht angetan. Daher will ich, dass das aufhört.“

Ein Mensch, der erkennt und anerkennt, dass er Opfer von Gewalt wurde, ist nicht schwach und hilflos, sondern stark. Er sieht der Realität ins Gesicht. Es ist auch nicht so, dass dieser Mensch in der Situation, in der ihm Gewalt angetan wurde, schwach war. Wenn man jemanden als schwach bezeichnet, der geschlagen oder gedemütigt wird, heißt das gleichzeitig, dass man ihm indirekt eine Mitverantwortung für die Situation gibt. „Er/sie hätte sich ja wehren können.“ „Wenn er/sie stärker wäre, hätte er/sie sich das nie gefallen lassen.“ „Er/sie hat ja mit dem Streit angefangen.“ Sich gegen Gewalt nicht zur Wehr setzen zu können, heißt nicht, dass man schwach ist.

Es ist ganz wichtig, klar zu differenzieren in einer solchen Situation: es gibt einen Menschen, der Gewalt anwendet und es gibt einen Menschen, dem Gewalt angetan wird. Der Mensch, der Gewalt anwendet ist Täter und voll verantwortlich für sein Handeln. Der Mensch, dem Gewalt angetan wird, ist Opfer. Er trägt keine Verantwortung für die Gewalt des Täters.

Wenn wir einen Artikel über einen Menschen lesen, der in der Stadt einen Menschen erschießt, ist es für uns ganz klar, dass dieser Mensch zu einem Täter wurde und für seine Tat zur Rechenschaft gezogen werden muss. Niemand stellt in Frage, dass dieser Mensch schuldig ist und bestraft werden muss, selbst wenn seine Tat eine tragische Vorgeschichte hat.

Bei häuslicher Gewalt und Beziehungsgewalt fällt es aber vielen Menschen – insbesondere den Opfern – schwer, eine klare Haltung zu finden. Der Opferstatus wird viel häufiger in Frage gestellt. Es wird viel genauer gefragt, inwiefern das Opfer mitverantwortlich war für die Gewalt. Ähnliches gilt übrigens auch bei Vergewaltigungen. Es scheint, als wären in dieser Situation unsere Empfindungen für Schuld und Verantwortung außer Kraft gesetzt. Es erscheint uns nicht vorstellbar, dass ein gewalttätiger Partner voll verantwortlich und schuldig für sein Handeln ist. Das Bild, dass zu einer Beziehung immer zwei gehören, ist in uns scheinbar so fest verankert, dass wir kaum zu einem klaren Urteil kommen.

Um eine Gewaltbeziehung ganz klar als eine solche zu erkennen, ist es ganz entscheidend, sich endlich selbst als Opfer sehen zu können. Die Dynamik einer solchen Beziehung funktioniert nur, so lange das Opfer in seiner Wahrnehmung gestört ist und sich selbst verantwortlich und schuldig fühlt für die Situation. Viele fühlen sich sogar als Täter. Die Rollen werden vertauscht. Sie empfinden sich als besonders stark, in so einer Beziehung leben zu können. Oder sie empfinden ihren Partner als schwach und hilflos und seinen Gefühlen und Gewaltattacken ausgeliefert.

Es ist z.B. nicht so, dass nur schwache Frauen, die sich in Beziehungen gern passiv verhalten, in einer Gewaltbeziehung landen. Viele starke, gebildete und emanzipierte Frauen finden sich in Gewaltbeziehungen wieder. Ihnen fällt es ganz besonders schwer zu realisieren, was da mit ihnen geschieht. Es passt in keinster Weise in ihr Selbstbild, ein Opfer zu sein. Sie kämpfen oft viele Jahre für ihre Partnerschaft und Familie. Gerade für diese Frauen ist es ganz besonders wichtig, sich selbst als Opfer zu erkennen und damit den anderen als Täter zu entlarven. Das ist ein erster und ganz entscheidender Schritt zur Erkenntnis der tatsächlichen Situation.

Wenn dieser Erkenntnisschritt einmal gemacht ist, fällt es immer schwerer, sich selbst etwas vorzumachen. Dadurch wird dann der Weg frei für eine Entscheidung und für die Trennung.

Ich möchte daher eine Lanze brechen für alle Menschen, die vor sich selbst und anderen zugeben: „Ja, ich bin ein Opfer von Gewalt geworden.“ Durch das klare Bewusstsein dafür, dass mir Unrecht geschehen ist, kann ich mich befreien. Durch die Erkenntnis, dass ich selbst nicht verantwortlich bin für die Handlungen des anderen und dass diese Handlungen falsch sind, kann ich endlich gehen. Ich muss nicht mehr um die Beziehung kämpfen. Ich darf aufgeben. Umgekehrt kann ich mich endlich voll und ganz für mich selbst einsetzen, indem ich z.B. Gewalt anzeige und meinen Partner nicht mehr decke, um das Scheinbild der heilen Familie zu wahren.

Da eine Trennung aus einer Gewaltbeziehung äußerst schwer ist, kann es hilfreich sein, das Täter-/Opferbild erst einmal sehr einseitig innerlich zu erlauben. Es kann helfen, die Wut auf den anderen für sich selbst voll zuzulassen (ohne den Partner mit der Wut zu konfrontieren übrigens, denn das ist äußerst gefährlich). Die schlechten und gewalttätigen Seiten des Partners in den Brennpunkt der Wahrnehmung zu stellen, kann gerade für die erste Zeit nach der Trennung sehr wichtig sein. Denn: Viele kehren wieder zu ihrem gewalttätigen Partner zurück, weil die Erinnerungen nach kürzester Zeit verblassen, die schönen gemeinsamen Erlebnisse wieder in den Fokus rücken und die Sehnsucht nach dem anderen wieder stärker wird. Gleichzeitig erleben viele Gewaltopfer, dass die Zweifel an der eigenen Wahrnehmung zunehmen. Man rutscht leicht wieder in das gewohnte Muster zurück, dass man selbst für das gewalttätige Verhalten des Partners verantwortlich ist. Gewaltbeziehungen entstehen aus Liebe. Daher ist eine Trennung schwer.

Es kann also keine Rede davon sein, dass diese Opfer sich in ihrem Opferstatus ausruhen. Im Gegenteil: sie wollen immer und immer wieder nicht wahrhaben, dass sie Opfer geworden sind, dass sie das zugelassen haben. Der Erkenntnisprozess muss immer wieder durchlaufen werden und kann sehr schmerzhaft sein, da dadurch das Selbstbild immer wieder erschüttert wird.

Sich selbst als Opfer zu sehen mit allen Konsequenzen, ist also schwer und unangenehm. Es ist keine passive Haltung, sondern eine bewusste und starke Konfrontation mit der Wahrheit, die klare Konsequenzen fordert. Mit Selbstmitleid hat dieser Erkenntnisprozess wenig zu tun, sondern mit Selbsterkenntnis. 

Eine längere (!) Zeit nach der Befreiung aus einer solchen Beziehung kann eine Auseinandersetzung mit den eigenen Fallstricken wichtig sein, um nicht wieder in einer solchen Beziehung zu landen. Denn: natürlich gibt es Gründe, dass man eine solche Beziehung zugelassen hat. Hilfreich ist hier eine Therapie bei einem Therapeuten, der sich mit Gewaltbeziehungen auskennnt. Ziel sollte sein, dass Selbstgefühl und das Bewusstsein für die eigenen Grenzen so zu stärken, dass es so gut wie nicht mehr möglich ist, diese Haltung zu verwirren und zu durchbrechen. Dazu gehört z.B. auch, dass man nicht mehr alles vergeben und vergessen muss, sondern dass man sich erlaubt, sich selbst an erste Stelle zu stellen und sich selbst zu verzeihen.


Bild: Pixabay, WikiImages

 

5 Kommentar

  1. Ich kapiere für mich selbst nicht, wie jemand ein Gewaltopfer für sein Leiden mit verantwortlich machen kann. Sollte jemand sich in meinem Beisein jemals diesbezüglich äussern, dann wasche ich dieser person verbal den Kopf. Mitschuld? Schwachsinn! Die Täter sind Ä….e, die sich nicht im Griff haben. Wie kann man für solche Subjekte nur einen Funken Verständnis aufbringen? *Virtuelles vorsichtiges Drücken aller Gewaltopfer*

  2. Ich danke Dir für all diese Artikel. Ich habe es endlich geschafft den Mut aufzubringen mich zu trennen. Nun stand ich sogar bei netten Freunden als Schuldige für das Verhalten meines Peinigers Rede und Antwort. Ich war vollkommen sprachlos und kam nicht mit dieser Schuldzuweisung zurecht. Nun suche ich Antworten für mich, da mir bewußt wurde, dass mir seit 20 Jahren alle die Schuld für sein Verhalten gegeben wurde. Niemand hat mir geglaubt und niemand konnte diesem netten Mann häusliche Gewalt zutrauen. Ich muss mich immer noch rechtfertigen, sogar vor dem Jugendamt, weil er so freundlich wirkt. Ich leide wie ein Hund. Diese Beiträge trösten mich und ich hoffe irgendwann stark genug zu sein um ein anderes Leben, nämlich endlich eins ohne Angst führen zu können.

    • Liebe Susanne,
      toll, dass Du es geschafft hast, Dich zu befreien! Bitte lass Dich nicht von Menschen entmutigen, die Dir die Schuld und Verantwortung für sein Verhalten geben wollen. Das ist leider nicht selten und Du bist also mit diesem „Phänomen“ nicht allein. Halte Dich möglichst eher an die Menschen, die Dir glauben und Dich unterstützen und suche Dir evtl. therapeutische Unterstützung. Alles Gute für Dich!
      Rona

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