Die Schuldfrage Wofür bin ich verantwortlich?

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„Wenn Du jemandem weh getan hast, musst Du Dich entschuldigen und das wiedergutmachen.“

Viele Kinder hören diesen Satz von ihren Eltern, im Kindergarten und in der Schule. Umgekehrt ist es sehr wichtig, dass Kinder frühzeitig lernen, dass niemand ihnen einfach weh tun darf – weder ein anderes Kind, noch ein Erwachsener. Selbst wenn der Übeltäter ein besonders geliebter Freund oder Angehöriger ist, darf dieser dem Kind keine Schmerzen zufügen. Derjenige, der weh tut oder der Gewalt anwendet, ist dafür verantwortlich. Er ist auch dafür verantwortlich, nachhaltig dafür zu sorgen, dass „alles wieder gut ist.“ Soweit, so klar.

Warum schreibe ich das? Ausgerechnet bei familiärer Gewalt wird der Spieß herumgedreht. Wenn es um Gewalt in Beziehungen geht – ob psychische, verbale oder körperliche Gewalt – beschäftigt viele Opfer – meist Frauen – die Schuldfrage. „Wie habe ich dazu beigetragen, dass der andere so handeln musste?“, „Was habe ich nur wieder falsch gemacht?“, „Wie kann ich mich ändern, damit der andere das nicht mehr tut?“ Solche und ähnliche Fragen rumoren im Kopf der Menschen, die von ihrem Partner gedemütigt und/oder geschlagen werden.

Und nicht nur das: auch die Außenwelt fragt im Falle von häuslicher Gewalt, wie „zickig“ sich wohl das Opfer verhalten hat, bevor der Täter schrie, quälte oder zuschlug. Denn: „bei einer Beziehung sind doch immer zwei Menschen beteiligt.“ Und: „niemand demütigt oder schlägt doch einfach nur so“ oder „wahrscheinlich hat sie ihn mit ihren Erwartungen mal wieder auf die Palme gebracht“ oder „sie war ja schon immer etwas schwierig.“ So oder ähnlich können die Gedanken und teilweise auch die offenen Äußerungen der Bekannten, Freunde und Angehörigen laufen.

Es ist ein typisches Muster in Gewalt- und Missbrauchsbeziehungen, dass die Verantwortung auf die Opfer übertragen wird. Das kann so weit gehen, dass die Opfer am Ende der Meinung sind, dass SIE eigentlich die Täter sind, dass sie den anderen so sehr gequält haben, dass er gar nicht anders konnte, als sie so zu behandeln oder zu schlagen. Ja, es kommt sogar häufig vor, dass die Opfer in der Vergangenheit des Partners forschen, warum er denn so werden musste, wie er ist. Er wird mit seiner schweren Kindheit entschuldigt und es wird ihm Verständnis und Mitgefühl entgegengebracht. „Er kann ja eigentlich nichts dafür.“

Wie kann das sein?

Es ist gar nicht so selten, dass Opfer in Gewaltbeziehungen sich selbst nach einer gewissen Zeit gewalttätig verhalten. Da werden plötzlich Tassen an die Wand geschleudert oder es wird bis zur Besinnungslosigkeit herumgeschrien oder sogar zurückgeboxt oder -geschlagen. Die Kinder werden mit hineingezogen in die Gewaltmuster. Sie werden unter Druck gesetzt, sich anders zu verhalten, damit der Partner friedlich bleibt.

Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied: Ein Mensch, der tage-, wochen-, monate- oder jahrelang von seinem Partner manipuliert, verunsichert und gequält wurde, kann früher oder später die Beherrschung verlieren. Er schämt sich aber aufrichtig für sein Verhalten und spürt die ganze Zeit, dass es nicht richtig ist. Solche Ausbrüche beschäftigen die Betroffenen tagelang. Sie fühlen sich schlecht und werden höchstwahrscheinlich das Gespräch mit dem anderen suchen, um eine Klärung zu erreichen.

Ein gewalttätiger Partner hat dagegen nicht wirklich ein schlechtes Gewissen und stellt sich selten in Frage. Typisch ist, dass ein „echter“ Gewalttäter nach dem Ausbruch zur ganz normalen Tagesordnung übergeht, als wäre nichts gewesen oder dass er zum Beispiel einfach verschwindet. Er fühlt sich nicht verantwortlich für sein Verhalten. Der „Vorfall“ wird von ihm nicht mehr angesprochen und thematisiert. Gerade wenn der Partner oder die Partnerin selbst ausfällig wird, ist dies eine willkommene Bestätigung für den Täter, dass ER nicht schuldig ist und dass DER ANDERE eigentlich das Problem hat. Damit ist er aus dem Schneider.

Aber er hat sich doch entschuldigt

Es kommt vor, dass ein Täter sich im Nachhinein entschuldigt. Das ist häufig bei den ersten Gewaltausbrüchen der Fall. Es entsteht der Eindruck, dass er sein Fehlverhalten einsieht und reflektiert. Dadurch keimt die Hoffnung, dass das nie wieder vorkommt. Das wird auch vom Täter immer wieder beteueuert: „Mir ist die Hand ausgerutscht. Es kommt nie wieder vor. Ich liebe Dich doch.“ Er ist nun eine wieder sehr freundlich und zuvorkommend und bringt vielleicht sogar Blumen mit. Er sagt: „Bitte verhalte Dich so und so. Dann muss ich das nicht mehr tun.“ Oder er sagt: „Du liebst mich nicht wirklich. Sonst würdest Du Dich anders verhalten. Du quälst mich mit Deiner fehlenden Liebe.“ Damit bestätigt der Täter die geheimen oder offenen Gedanken des Opfers: „Eigentlich bin ich die Täterin. Ich bin verantwortlich.“

Gewalttätige Partner können sehr geschickt darin sein, sich als Unschuldslamm zu verkaufen. Noch geschickter sind sie darin, die Verantwortung an den Partner zu übertragen. Auch wenn ein Täter sich vielleicht sehr schamvoll verhält nach einer Gewaltattacke, ist er immer noch Täter. Ein Täter, der wirklich Verantwortung übernimmt, tut alles dafür, sein Verhalten zu ändern.

Wie der Partner sich verhält ist indes völlig egal. Die Gewalt wird so oder so ausgeübt – egal, was er tut. UND: die Gewalt steigert sich von Mal zu Mal. Auch hier kann man natürlich mit dem Argument kommen, dass die Gewalt sich deshalb steigert, weil der Partner ständig herummeckert oder ihn kritisiert und ihn nicht in Ruhe lässt. ABER: egal, wie sehr der Partner meckert und kritisiert, ist das keine Rechtfertigung für Gewalt.

[tweetthis]Gemecker und Kritik ist ebensowenig ein Grund für Partnerschaftsgewalt wie ein Minirock ein Grund für eine Vergewaltigung ist.[/tweetthis]

Warum wird in Partnerschaften eine Gewalt entschuldigt, die angeblich durch Triebe gesteuert wird? Alle Menschen haben mit ihren Trieben zu tun. Viele Menschen haben selbst Gewalt oder Missbrauch oder Demütigungen in ihrer Kindheit erfahren. Aber nur ein kleiner Prozentsatz nutzt die eigenen Gewalterfahrungen als Argument, selbst gewalttätig zu werden. Alle anderen bewältigen ihre Erfahrungen und entscheiden sich, es anders zu machen.

Gewalt ist immer eine Entscheidung

Es wird häufig von den Opfern erklärt, dass der Partner im Affekt gewalttätig wurde. Es ist so über ihn gekommen. Das sagt er oft sogar selbst. Warum kommt so etwas nicht über alle Menschen, die eine schwere Kindheit hatten? Weil es eine Entscheidung ist. Ob ich der Gewalt Raum gebe, liegt in meiner eigenen Verantwortung. Niemand kann mich einfach dazu bringen. Wenn man dann noch genauer beobachtet, WIE die Gewalt ausgeübt wird, wird sehr deutlich, dass es sich nicht um Affekt, sondern um eine kühle Entscheidung handelt. Denn die Gewalt gilt häufig nur einer einzigen Person: der Partnerin. Wenn der Täter wirklich Opfer seiner Triebe wäre, würde er überall Gewalt anwenden. Er würde bei jeder schwierigen und herausfordernden Situation „ausflippen“. Es ist aber typisch, dass der Täter in der Außenwelt ein völlig harmonisches Leben als freundlicher Geselle führt und in den eigenen vier Wänden zum Gewalttäter mutiert.

Was hilft?

In einer Gewalt- und Missbrauchsbeziehung sind die Opfer sehr verstrickt in Denkmuster, die die Wahrnehmung trüben. Es fällt ihnen schwer, eine klare Perspektive zu gewinnen. Sie fühlen sich verantwortlich für den Verlauf der Beziehung. Es gibt sogar Opfer, denen bewusst ist, dass das Verhalten des anderen nicht in Ordnung ist und die um Verständnis kämpfen und lange mit dem Partner reden, streiten und diskutieren. Fakt ist:

Bleiben bedeutet Akzeptanz – egal wie sehr Du für Deine Rechte kämpfst oder um Verständnis, Änderung und Entwicklung bemüht bist.

Ein wesentlicher Schritt in die Befreiung ist, das Gefühl der Schuld und Verantwortung hinter sich zu lassen.

Du bist nicht Schuld! Du bist nicht verantwortlich!

Deine einzige Verantwortung ist, dem Ganzen ein Ende zu setzen und damit endlich für Dich (und vielleicht Deine Kinder) einzustehen. Deine Schuld ist allerhöchstens, dass Du das mit Dir machen lässt und dass Deine Kinder das miterleben müssen.

Es ist ganz typisch, dass innerlich ganz viele Abers kommen, wenn so etwas zu Dir als Opfer einer Gewaltbeziehung gesagt wird. „Aber ich habe doch … gemacht. Bin dann nicht doch ich Schuld?“ Nein, Du bist nicht Schuld! Die Abers kommen daher, dass es schwer fällt, sich als Opfer zu sehen. Man möchte sich nicht eingestehen, dass man sich zum Opfer hat machen lassen. Opfer sein ist unangenehm. Anders sieht das der Täter: er kann sich in seinem Opfergefühl regelrecht suhlen und das als Motiv für Gewalt verwenden.

Wenn Du Gewalt in der Partnerschaft erlebst, ist es Deine Aufgabe und Deine Verantwortung, Dich zu trennen – nicht mehr und nicht weniger. Dazu gibt es keine Alternative.

Und denk immer dran: Es ist Dein Leben. Du darfst glücklich sein. 🙂

 

Bild: Shutterstock, PathDoc

2 Kommentar

  1. Ob ich das mal rebloggen dürfte?

    Wird, finde ich, viel zu selten gelikt! Oder wurde die Seite schon oft aufgerufen?

    Sooo wichtig – das Thema!

    Auch, wenn es z.B. „nur“ um verbale Gewalt oder Mobbing geht, laufen ja in den Opfern ähnliche Denkprozesse und Schuldsuchen ab.

    LG, Hiltrud

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