Vergeben beenden …und warum Selbstachtung wichtiger ist

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Vergebung. Ein schönes Wort, oder? Für mich klingt es aber nach knorrigen Holzbänken, nach Beichtstühlen, nach ausgebrannten Kerzen, nach verkniffenen Mundwinkeln, nach erhobenen Zeigefingern. Ich denke auch an Engel, an eine Verheißung irgendwo, an eine nicht verortbare Erleichterung. Gleichzeitig macht sich in mir so ein Druck breit, ein unschöner Druck.

Ich habe aufgehört zu vergeben. Schon einmal habe ich darüber geschrieben und möchte es nun noch einmal etwas ausführlicher tun.  Mit meiner letzten Trennung ist die Vergebung von mir gegangen. Es war mir erst nicht wirklich klar. Dann habe ich aber in einem Forum die Frage einer Frau gelesen, die den Rat bekommen hatte, ihrem Partner zu vergeben, damit sie wieder frei sein kann. Diese Frau hatte sich von einem gewalttätigen Partner getrennt. Sie wollte wissen, wie andere Frauen das sehen. Ob ihnen Vergebung geholfen hat. Ich musste antworten, weil ich plötzlich merkte, dass ich das Vergeben hinter mir gelassen hatte.

Ich war immer ein sehr verständnisvoller Mensch. Ich habe immer versucht, die Motive anderer Menschen zu verstehen, warum jemand etwas macht. Auch heute noch ist mir das wichtig. Ich habe an einen guten Kern in jedem Menschen geglaubt. Aber ich habe gelernt, dass es Situationen gibt, in denen mir das Vergeben nicht weiterhilft und sogar schadet. Wenn Vergeben dazu führt, dass Du zulässt, dass Deine Grenzen immer und immer wieder überschritten werden, ist Vergebung nicht angebracht. Eine Haltung des Verständnisses und der Vergebung kann Dich jahrelang in Lebenssituationen festhalten, die Dir überhaupt nicht gut tun. Du verzeihst und verstehst und analysierst und vergibst. Aber Du vergibst Dinge, die man nicht vergeben sollte, die zumindest nicht so stehenbleiben sollten, die Konsequenzen fordern. Wenn ich so eine Art von Verständnis und Vergebung praktiziere, merke ich das körperlich. Es fühlt sich an, als würde sich in meinem Körper eine zähflüssige, klebrige Flüssigkeit breit machen. Gleichzeitig fühle ich mich wie gelähmt. Der Körper weiß genau, dass mir etwas übergriffiges geschieht. Er gibt klare Signale. Häufig habe ich diese Signale übergangen.

Seit ich für Übergriffigkeiten sensibler geworden bin, spüre ich sie überall. Es ist schwer und erfordert Aufmerksamkeit, sich dagegen abzugrenzen. Aber selbst wenn Du Dich immer und immer wieder dagegen abgrenzt, musst Du doch am Ende eine Entscheidung treffen. Abgrenzen allein hilft nicht auf Dauer. Ein Mensch, der sich immer und immer wieder übergriffig verhält, Deine Grenzen nicht respektiert und Dich verletzt hat Dein Verständnis an diesem Punkt in Deinem Leben nicht mehr verdient. Er hat auch Deine Kraft nicht mehr verdient, die Du in ihn investierst, damit sich endlich etwas ändert. Dein Verständnis und Deine Kraft gehen nach außen zu diesem Menschen. Aber wo ist das Verständnis für Dich selbst geblieben? Wer steht für Dich ein?

Ja, wir haben alle in unserer christlich geprägten Kultur immer und immer wieder gehört, welch hohe und erstrebenswerte Haltung diese Vergebung ist. Und selbst wenn wir nicht mehr in die Kirche gehen, sitzen wir vielleicht in einem Yoga-Seminar und auch dort wird über Vergebung gesprochen. Oder wir sitzen bei einem Therapeuten. Und auch er spricht davon, dass wir endlich vergeben sollten, um frei zu werden. Wie ein Mantra wird das immer und überall wiederholt:

Vergib, dann wirst Du frei sein! Vergib! Vergib! Vergib! Sonst wirst Du nie mehr glücklich.

Leider wird das oft missverstanden oder zu einem völlig falschen Zeitpunkt gesagt. Ich glaube schon, dass Vergebung irgendwann möglich ist. Aber vorher sind viele andere Schritte nötig. Vorher müssen Wunden geleckt werden. Es muss einen Aufschrei geben über das erlittene Unrecht. Die eigene Verletztheit muss ernst genommen werden und Raum erhalten in Empörung und Wut.

Als ich endlich aufhörte zu vergeben, die Hoffnung auf Änderung und Besserung des anderen aufgab und ihm die Verantwortung für sein Verhalten zurückgab, fühlte ich mich befreit. Ich konnte endlich diese so schädliche Beziehung loslassen. Ich begann, für mich und meine verletzten Gefühle einzustehen. Ich ließ nicht mehr zu, dass eine innere Stimme zu mir sagte, ich solle mich nicht so anstellen und ich solle wieder verzeihen.Der andere wäre doch auch nur ein Mensch. Nein! Ich sagte zum ersten Mal deutlich „Nein!“ zu dieser Haltung. Ich begann mich selbst und meine Bedürfnisse und Gefühle in den Mittelpunkt zu stellen und mich frei zu machen von den Bedürfnissen und Gefühlen des anderen.

Mein damaliger privater Therapeut hat mich genau in dieser Empörung unterstützt. Er benannte die Realität. Er sprach von Gewalt. Und daran erinnert er mich auch heute noch immer und immer wieder, wenn ich wieder denke, ich wäre Schuld. Ich war noch bei einem Psychoanalytiker. Der wollte, dass ich reflektiere, was meine Verantwortung an dem Ganzen ist. Er sprach viel von Vergebung, als es um meine Familiengeschichte ging. Ich fühlte mich schlecht dadurch, nicht ernst genommen, in meinen Selbstzweifeln bestätigt. Als ich dann Alice Miller las, konnte ich ihr nur zustimmen. Erfahrungen von Missbrauch und Gewalt erfordern einen Therapeuten als Gegenüber, der mit mir in die Empörung über das geschehene Unrecht geht. Erst danach und viel, viel später kann dann eine Reflektion über die eigenen Anteile beginnen – wenn überhaupt. Die Empörung bedeutet, dass der Missbrauch endlich benannt werden darf, dass man endlich ernst genommen und gehört wird. Erst dadurch kann Heilung möglich werden. Wenn ich dagegen unterstützt werde darin, meine Empörung und Wut ins verschämte Kämmerlein zu sperren und endlich wieder ein liebes Kind zu sein, wiederhole ich die kranken Muster, die mich genau in eine solche Beziehung geführt haben.

Ich glaube heute, dass echte Vergebung erfordert, dass ich zuallererst mir selbst vergebe und dass ich zuallererst mich selbst in all meiner Verletztheit ernst nehme und zulasse. Erst daraus kann sich dann eine authentische Haltung der Vergebung gegenüber anderen Menschen entwickeln. Vorher ist Vergebung nur Augenwischerei und Selbstbetrug. Ich glaube, dass die echte Vergebung, die selbstlose Vergebung äußerst selten ist. Meist wird vergeben, um sich nicht mit der Realität auseinandersetzen zu müssen. Oder es wird aus Bedürftigkeit vergeben, oder aus mangelndem Selbstwertgefühl. Echte Vergebung kann für mich nur dann kommen, wenn ich zuerst mir selbst vergeben habe und wenn ich voll und ganz für mich selbst eingestanden bin. Vielleicht kommt die Vergebung sogar nie.

Heute kann ich ohne Schuldgefühle damit leben, dass ich vielleicht nie ganz vergeben kann.

 

Bild: Pixabay, Luanne

8 Kommentar

  1. Wow! Danke für den Mut das auszusprechen. Ich habe auch jahrelang versucht mit Verständnis und Vergebung einem Menschen gerecht zu werden. Bis ich Gott, mir und guten Therapeuten sei dank darauf gekommen bin, dass ich glasklare Grenzen und Konsequenzen setzen muss. Das funktioniert. Mühsam habe ich gelernt und lerne es immer noch, was es wirklich heißt zu mir selbst zu stehen. Danke für den tollen Artikel. Ich würde ihn gern auf meiner Facebookseite verlinken. Herzliche Grüße Katrin

  2. danke. das ist das beste, was ich heute gelesen habe. genau in dieser situation bin ich. alle sagen mir, ich müsse vergeben. aber ich will nicht vergeben, ich weiß auch gar nicht, was es zu vergeben gibt. einmal ist die grenze erreicht, wo man nicht mehr vergeben kann. für mich gibt es da nichts zu vergeben.

    • Ja, Adina. Vergeben muss man nicht. Es kann sehr behindernd sein, wenn man sich zum Vergeben zwingt – v.a. wenn man nachhaltig verletzt wurde. Vielleicht kannst Du irgendwann vergeben. Aber es ist keine Voraussetzung, um Dich zu lösen und um für Dich glücklich zu sein. Das ist zumindest meine Erfahrung.

  3. Vergebung wird mir seit Beginn meiner Beziehung von Aussen zum ständigen Begleiter aufgezwungen. Dank dieses Druckes habe ich mich jetzt nun mit über zwanzig Jahren damit belastet und extrem schlecht gefühlt. Ich fühlte mich wie ein böser Mensch, zudem mich mein Exmann täglich gemacht hat, weil ich mich extrem schlecht behandelt fühlte. Aber statt mir einmal zuzuhören, wurde mir genervt Vergebung aufgebürdet. Ich hatte nicht das Recht mir Luft zu machen, das Wort Vergebung wurde nach Bedarf vorgeschoben um nicht zuhören zu müssen. Ich war verzweifelt, weil mir Unrecht angetan wurde. Da ich ja scheinbar kein lobenswerter Mensch war, weil ich statt zu vergeben gewagt hatte anzusprechen was mich belastete. So habe ich mich auch noch geschämt dafür, dass ich wütend war statt zu vergeben. Ich sprach nie wieder darüber und fraß mich stattdessen innerlich auf. Auch heute, 2 Jahre nachdem die Polizei meinen Mann abholte werde ich von allen Seiten immer wieder darauf angesprochen. Auch heute darf ich nicht wütend sein auf das was ich 20 Jahre erdulden musste, sondern muss vergeben. Weil ich das scheinbar nicht kann, bin ich eben selbst schuld an meinem Leid. Schweig und vergebe ist die Devise. Auch bei meiner Psychologin. Das spart Zeit und man muss nicht zuhören. Das ist meine leidvolle Erfahrung zu diesem Thema.
    Ich danke dir wieder einmal unglaublich für diesen guten Beitrag. Du hilfst mir bisher am meisten mit meiner Situation zurecht zu kommen! Danke dafür!!!

    • Liebe Susanne,

      vielen Dank für Deinen Kommentar und Deine Rückmeldung. Ich halte es nach wie vor für ganz wesentlich, das Vergeben zu beenden, um die eigenen Verletzungen zu würdigen und ernst zu nehmen. Vielleicht solltest Du darüber nachdenken, die Therapeutin zu wechseln. Gerade in der Psychoanalyse ist Vergebung ein wichtiges Element – auch bei Missbrauch. Alice Miller hat sich mit diesem Thema sehr kritisch auseinandergesetzt. Auch neuere Trauma-Therapiemethoden sehen Vergebung kritisch.

      Ganz liebe Grüße
      Rona

  4. Hallo, mir spricht das aus der Seele, denn als Körpertherapeutin kann ich sagen, dass der Körper solche kognitiven und intelektuellen Kontrukte „nicht versteht“. Ja, Danke, man muss nicht vergeben, man darf endlich gehört, verstanden, gesehen und sich geschützt und getröstet fühlen, das versteht der Körper. Wer genährt und geheilt ist und wenn es an der Zeit ist vergibt. Oder auch nicht. Vergeben ist nicht das Wesentliche.

  5. Liebe Susanne

    Ich bin immer froh, wenn ich mal einen kritischeren Beitrag zum „Wundermittel“ Vergebung lesen darf. Selten genug ist das leider der Fall.

    Der Begriff „Vergebung“ stammt ursprünglich aus der Finanzwelt. Man vergibt eine Geldschuld. Das heisst, man verzichtet auf die Rückzahlung. Damit sind wir auch schon beim Begriff „Verzeihen“. Auch Verzeihen bedeutet Verzicht. Auf Rache oder Wiedergutmachung. Die Worte „Verzeihen“ und „Verzichten“ klingen nicht zufällig so ähnlich, sie sind aus dem selben Wortstamm.

    Was heute allerdings von Religion und Psychologie propagiert wird, schiesst weit über die simple Vergebung hinaus. Es reicht nicht, wenn wir auf die Wiedergutmachung oder die Rache verzichten.
    Wir sollen so tun, als wäre die Tat nie geschehen.
    Und das ist nicht Vergebung, sondern Verleugnung!
    Wir sollen ab Vergebungstermin sofort alle Gefühle unterdrücken, die mit der Tat zu tun haben. „Den Groll überwinden“, heisst das beschönigend. Wir sollen den Täter wieder in unser Leben lassen, als wäre nie etwas vorgefallen. Im schlimmsten Fall wird auch noch propagiert, dass wir dem Täter demonstrativ den Schmus zu bringen. Das soll angeblich besonders heilsam sein.

    Auf diese Weise züchtet man nur zu leicht Wiederholungstäter. Diese Vergebung wirkt wie eine Belohnung.

    Ich war mal ein richtiger „Vergebungsfan“ und musste diese bittere Erfahrung selber machen. Je mehr und öfter ich vergab, desto mehr Unverschämtheiten nahmen sich meine Eltern heraus. Warum auch nicht, wenn sie von diesem Vorgehen profitieren? Und dank der dauernden Vergebung niemals negative Konsequenzen befürchten mussten? Sie machten einfach das, was ihnen den grössten Nutzen brachte.

    Dass dieses Vorgehen auch für die Opfer nicht zuträglich ist, versteht sich von selbst! Das Opfer hat genug damit zu tun, sein eigenes Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Es kann sich weiss Gott nicht auch noch damit beschäftigen, den „armen“ Täter zu entlasten.

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