Wachstumsschmerzen Eine Mutter geht

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DAs Leben der anderen

Es ist schon etwa zwei Jahre her, als ich mit einer Bekannten im Auto saß. Sie ist die Mutter eines Freundes meines Sohnes, superadrettes Häuschen, kein Staubkorn nirgends, jederzeit eine der Jahreszeit entsprechende Vorgartendeko, durchdachte Tages-, Jahres-, Urlaubs-, Lebens- und Zukunftsplanung – alles perfekt. Sie weiß, dass sie perfekt ist und sie redet darüber. Ich frage mich derweil voller Ehrfurcht, wie sie das schafft. Es ist und bleibt mir ein absolutes Rätsel, wie man als berufstätige Frau mit Kind ein so geschniegelt gewienertes Haus hinkriegt. Ich glaube, man muss die ganze Zeit einen Lappen in der Tasche mit sich führen, oder so, und jede freie Minute über irgendeine Anrichte wischen.

Seit über 5 Jahren lebe ich nun hier auf dem Land und bin überall mit diesen perfekten Familien konfrontiert, diesen dekorierten Vorgärten und Wohnungen, dem Kommunion-Feiern, dem Feuerwehr-Fest, dem Krippenspiel mit meinen nicht getauften Kindern und all dem, was für mich eine fremde Welt darstellt.

Ich habe keine wirklichen Freunde hier, außer die Frauen aus dem Geburtshaus. Ich weiß aber auch nach wie vor nicht, ob ich hier Freunde haben will. Ich fühle mich wie auf einem fremden Planeten, den nur meine Kinder souverän betreten können. Ich bleibe fremd. Da mir aber das Gefühl des Fremdseins nicht neu ist, macht es mir keine Angst. Und da ich auch keine Angst vor dem Alleinsein habe, komme ich zurecht.

Besagte perfekte Frau und Mutter (mit perfektem Kind und perfektem Mann natürlich) fragte mich auf besagter Autofahrt über mein Leben aus. Erst nach dem Aussteigen verstand ich, warum ich mich zunehmend unwohl fühlte. Sie schaffte es, dass ich einen großen Teil meiner Familiengeschichte erzählte und beim Aussteigen hörte ich, wie sich eine große, dunkle Schublade in ihrem Inneren schloß. Sie hatte mich einsortiert, mitsamt meiner Lebensgeschichte und natürlich mitsamt meinen Kindern. Die Schublade, in die sie mich einsortiert hatte, trug eine fette Aufschrift:

„Eindeutig gescheitert. Kontakt ihres Sohnes zu meinem Sohn nur mit Einschränkungen.“

Eine Mutter verliebt sich

Ich kenne diese Schublade schon sehr, sehr gut. Ich kenne sie seit meine Mutter sich in einen 10 Jahre jüngeren Mann verliebte und meine Schwester, mich und meinen Vater verließ. Auch damals lebten wir auf dem Land und es war in den tiefsten 80ern. Damals war Trennung und Scheidung noch eine Seltenheit. Noch seltener war es, dass eine Frau und Mutter ging und ihre Kinder zurückließ.

Kurz vorher hatte meine Tante ihren Mann und ihr Baby wegen einem neuen Mann zurückgelassen. Ich fand das als pubertierendes Mädchen mit festen Moralvorstellungen das Letzte. Eine Frau, die sich trennt und dann auch noch ein Baby zurücklässt beim Vater… Wie geht denn sowas?

Kurz darauf ging ein ähnliches Drama in unserer Familie los. Ich hatte das in unserer Familie so nicht erwartet. Insofern war es ein großer Schock. In dem Moment, wo meine Mutter uns ihre Gefühle zu dem neuen Mann beichtete, war ich schlagartig kein Kind mehr. Meine Eltern waren gefangen in dem Strudel ihrer verwirrten Gefühle. Sie versuchten zu kitten, was nicht zu kitten war. Es wurde uns eine heile Familie vorgespielt, eine heile Paarbeziehung. Aber ich wusste schon sehr lange vorher, dass das keine heile Paarbeziehung war, was meine Eltern lebten, auch wenn die Konflikte immer dann ausgetragen wurden, wenn wir schon im Bett waren.

Als Kind waren für mich diese verdeckten Konflikte meiner Eltern eine konstante Bedrohung. Die geheuchelte Harmonie in der Zeit vor der tatsächlichen Trennung war dann noch eine Steigerung. Am unerträglichsten an der ganzen Situation war für mich die Unehrlichkeit und damit verbunden die Ungewissheit, wie es weitergeht. Ich war heilfroh, als meine Mutter endlich ging. Dadurch war dieser quälerische Schwebezustand beendet.

Eine Mutter geht. Und die Kinder?

Ich war damals unglaublich wütend auf meine Mutter. Sie hätte uns gern mitgenommen, aber ich machte mir Sorgen um meinen Vater und ich wollte unser bisheriges Zuhause nicht verlassen. Meine Schwester richtete sich nach mir. Aus heutiger Sicht haben wir Kinder damals entschieden, wo wir bleiben. Für mich war es eine Racheentscheidung. Ich habe mich gerächt an meiner Mutter für ihren Schritt zu einem neuen Mann und für die Zerstörung unserer Familie. Sehr, sehr lange wollte ich diesen Mann nicht sehen. Ich stellte ihn mir vor wie einen Giggolo, der meine Mutter verführt hat.

Schwierig war, dass meine Mutter bisher unsere Hauptbezugsperson war. Mein Vater war beruflich sehr eingespannt, viel auf Geschäftsreise etc. Er hatte sich vorher nie groß um den Haushalt oder den Alltag mit uns gekümmert, so wie es eben damals noch üblich war. Er betrat mit seiner Situation als alleinerziehender Vater absolutes Neuland. Ich glaube auch nicht, dass er sich jemals „alleinerziehend“ genannt hat. Die neue Lebenssituation hat ihn oft an den Rand seiner Kräfte gebracht. Es gab viele, viele schwierige Konflikte zwischen uns allen. Dennoch kämpften wir uns hindurch.

Das Zentrum der Familie waren seit der Trennung unserer Eltern wir Schwestern. Es hat uns in einer Art und Weise zusammengeschweißt, die schön, aber auch schwierig war. Wir klammerten uns aneinander. Wir gaben uns gegenseitig Halt. Aber wir waren auch immer wieder maßlos überfordert mit all dem.

Was in der Folge für uns besonders schwer war, waren die Reaktionen und Vorurteile der Umgebung: Dieses klebrige Mitleid, das geheuchelte Umsorgen und Kümmern. Wir saßen wie in einem Brennglas und wurden beobachtet. Jegliche Auffälligkeit, Probleme in der Schule, die Art uns zu kleiden oder ähnliches wurde mit der Trennung unserer Eltern in Zusammenhang gebracht. Wir konnten uns in der Nachbarschaft nicht mehr wirklich frei bewegen. Wir hatten niemanden, dem wir uns wirklich anvertrauen konnten oder mit dem wir über unsere Schwierigkeiten sprechen konnten. Ich habe damals schon verstanden, wie lähmend Mitleid sein kann. Es hilft dem betroffenen Menschen nicht. Mitleid baut Distanz auf. Der Bemitleidete wird nicht in seinen Chancen und Möglichkeiten gesehen, sondern nur noch in seinem Schmerz und in seinem Scheitern. Ich glaube, dass das auch etwas reizvolles für unsere Nachbarn hatte. Es war wie ein reißerischer Artikel in einer Boulevard-Zeitung, live in der Nachbarschaft. Unsere Mutter war schon immer ein bunter Vogel, ein außergewöhnlicher Mensch – und jetzt das! Irgendwie toll. Ein echtes Drama neben der eigenen Haustür. Reality-TV bevor es Reality-TV gab.

Der Wechsel an eine andere Schule in der benachbarten Kleinstadt und später der Umzug war wie eine Flucht aus dieser alten Familienumgebung, die für uns immer unerträglicher wurde. Die dörfliche Nachbarschaft kann gnadenlos sein. Dieses Zusammenhalten in der Dorfgemeinschaft, von dem immer so geschwärmt wird, habe ich nie erlebt. Ich glaube, das funktioniert auch nur, so lange man sich an die ungeschriebenen Gesetze hält und schön brav in seinem Standard-Leben verweilt.

Persona non grata

Natürlich war meine Mutter nun überall verrufen, sowohl innerhalb ihrer Familie als auch bei den Nachbarn, Bekannten und Freunden. Über Nacht war sie zu einer Persona non grata geworden. Niemand hatte Verständnis für ihren Schritt hinaus aus der Familie hin zu einem Mann, in den sie sich unsterblich verliebt hatte und der 10 Jahre jünger war als sie. Es war eine Anhäufung von Tabus, die für Außenstehende scheinbar unerträglich war. Die gemeinsamen Freunde stellten sich auf die Seite meines Vaters. Warum es meine Mutter überhaupt zu einem anderen Mann gezogen hatte, wurde nie gefragt. Sie war verantwortlich für das Scheitern der Beziehung. Punkt. Ihr Recht auf Verständnis hatte sie verwirkt.

Wie unglaublich schwer dieser Schritt für sie gewesen sein muss, wie stark ihre Gefühle zu ihrem neuen Mann waren und wie sehr sie die Trennung von uns innerlich zerrissen hat, habe ich erst später verstanden. Sie sagt heute, dass jede Autofahrt weg von uns ein einziges Tränenmeer war. Heute, wo ich selbst Mutter bin und zwei Trennungen mit Kindern hinter mir habe, habe ich eine ungefähre Ahnung davon, was in ihr vorging. Aus heutiger Sicht finde ich ihren Schritt wahnsinnig mutig und bewundere sie. Sie hat sich frei gemacht von allen Konventionen und ist ihrem Herzen gefolgt.

Lange, lange Jahre hat sie versucht, uns zu sich zu holen. In jeder Wohnung und jedem Haus hat sie Zimmer für uns eingerichtet. Wir kamen nur zu Besuch – auch länger – aber wir blieben nicht. Diese Tage bei ihr und ihrem neuen Mann waren wie ein Auftanken für mich. Ich war wieder bei der mir vertrautesten Person. Sie bemühte sich, uns die Tage so schön wie möglich zu gestalten. Wir konnten uns fallenlassen.

Heute, wo ich lange erwachsen bin, lebe ich mit meinen Söhnen bei ihr und meinem Stiefvater – dem wirklich wunderbaren Mann, für den sie damals gegangen ist. Manchmal denke ich, wir versuchen jetzt, das wieder zu flicken, was damals zerbrochen ist. Es ist spürbar, dass das nicht wirklich funktioniert. Die Verletzungen auf beiden Seiten sitzen zu tief. Manchmal brechen sie eruptionsartig aus. Dann haben wir wieder gute und schöne Tage miteinander. Ich glaube, wir leben in einer seltsamen Symbiose miteinander. Wir versuchen, unsere Wunden zu heilen, aber das geht nicht. Wir müssen lernen, mit diesen Wunden zu leben.

Freiheit macht Angst

Als ich meine beiden Trennungen von den Vätern meiner Söhne durchmachte, wurde ich von ihr sehr unterstützt. Sie wusste, was mir bevorsteht. Sie kannte diese plötzliche Einsamkeit, die bohrenden Blicke, die Kälte, das Gefühl des Ausgeschlossenseins. Als ich erzählte, dass ich das Gefühl habe, eine Gefahr für andere Frauen darzustellen, wusste sie genau, was ich meine. Auch sie hatte das erlebt. Es hat etwas Unerhörtes, wenn eine Frau einen Schritt in die Freiheit wagt, wenn sie sich von Konventionen löst – vor allem als Mutter. Sie bricht damit viele, viele ungeschriebene Gesetze. Sie wird vogelfrei.

Wir haben uns viel darüber unterhalten und viel darüber nachgedacht. Am Ende dachte ich, dass wir Frauen, die solche Schritte wagen, eine Art Spiegel für andere Frauen sind. Wir zeigen die Möglichkeit auf, ein ganz anderes Leben zu wagen, nicht im Standardmuster sitzenzubleiben. Wir stellen den Status Quo in Frage. Wir zeigen, dass man aus unerträglichen Lebenssituationen heraus eine Entscheidung für sich selbst treffen kann, indem man geht.

Freiheit macht Mut

Nachdem meine Mutter gegangen war und auch wir umgezogen waren, erfuhr ich, dass einige weitere Frauen in der Nachbarschaft ihre Männer verließen. Scheinbar hatte das etwas ansteckendes. Eine Möglichkeit wurde aufgezeigt und andere folgten, nachdem sie sich vorher über meine Mutter aufgeregt hatten. Es hatte etwas geweckt in ihnen: Eine Hoffnung, dass es noch anders gehen kann.

Auch wenn es absurd klingt: mir hat dieser Mut meiner Mutter selbst Mut gemacht. Als Jugendliche hatte ich eine schwere Zeit. Es war nicht einfach. Aber ich bin an diesen schwierigen Situationen gewachsen. Ich bin ihr heute dankbar, dass sie mir gezeigt hat, welche Möglichkeiten man als Frau hat, dass man sein Leben immer wieder ändern kann, dass man seinem Glück folgen darf. Und das Leben bei unserem Vater hatte den Vorteil, dass er uns besser frei lassen konnte, mehr tolerierte, uns nicht so stark einschränkte. Ich sehe auch heute noch, wie sehr mich all diese Erfahrungen verletzt haben und wie viele Narben ich davon mit mir herumschleppe. Gleichzeitig sehe ich aber auch, dass mir diese Erfahrungen den Weg zu einem ganz eigenen Leben geebnet haben.


Dieser Text wurde auf Twitter angeregt von Christine Finke von Mama arbeitet. Es ist eine andere und schon betagte Perspektive auf den Artikel „Wochend-Mutter“ von Tina und den Artikel „Keine Sorge. Ich will Deinen Mann nicht klauen!“ von Christine Finke.

 

9 Kommentar

  1. Sehr schön geschrieben. Es ist ineteressant und gut, auch mal von Frauen zu erfahren, die ihre Familie verlassen haben.
    Und was Mütter angeht, finde ich, muss man nicht perfekt sein. Was ist überhaupt perfekt? Das ist für mich überjaupt ncht erstrebenswert.

    • Danke, Silke! Ich freue mich sehr, dass Du mich so regelmäßig liest. 😉
      Ich denke schon, dass viele Mütter an sich selbst einen Perfektionsanspruch stellen und auch von außen einem starken Erwartungsdruck ausgesetzt sind. Es gilt, sich davon frei zu machen. Denn es ist wirklich nicht erstrebenswert, so zu leben.

  2. Sehr schön geschriebener Artikel. Erkenne mich auch als Scheidungskind gut darin wieder.

  3. Danke für deinen Mut und diesen wunderbar ehrlichen Artikel! Ich hoffe du machst vielen Frauen Mut, ihren Weg zu gehen und sich von erdrückenden Konventionen frei zu machen!

    Liebe Grüße, Frida

    • Liebe Frida,

      danke für Deinen Kommentar. Ja, das „Mut machen“ war auch mein Motiv für den Artikel. Auch heute noch setzen sich viele Frauen und Mütter viel zu sehr unter Druck.

      Liebe Grüße
      Rona

  4. Liebe Rona, wunderbar geschrieben! Liest sich spannend wie ein Krimi. Wie geht es dir eigentlich??
    Liebe Grüße von Ingrid

    • Liebe Ingrid,
      danke für Deinen Kommentar. Freut mich, dass Du den Text spannend findest. Ich maile Dir demnächst mal wieder.
      Liebe Grüße Rona

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