Das Alibi Menschen, die in Missbrauchsbeziehungen leben - Teil 2

InBeziehungsgewalt, Partnerschaft, Trennung
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Wie kann es sein, dass eine Frau bei einem Mann bleibt, der sie psychisch oder sogar physisch misshandelt?

In Teil 1 habe ich den TED-Talk von Leslie Morgan-Steiner geteilt, die beeindruckend schildert, wie sie in eine Missbrauchsbeziehung geriet. Die für mich wichtigsten Punkte habe ich hier nochmal gesammelt.

Es gibt viele Gründe, warum Menschen in Missbrauchsbeziehungen bleiben. Häufig ist das für Angehörige und Freunde völlig unverständlich. Im Nachhinein fällt es auch der Frau schwer, ihre Motive zu verstehen. Daher schreibe ich diese Auflistung als Merker, als Erinnerer, als Warnmelder. Gerne kann diese Liste frei ergänzt werden.

  1. Nur ich kann ihn verstehen
  2. Nur ich kann ihn heilen
  3. Unsere Partnerschaft ist etwas Besonderes
  4. Er hat es nicht so gemeint
  5. Er wird sich ändern
  6. Ich liebe ihn und er liebt mich
  7. Wir haben gemeinsame Kinder
  8. Mich wird niemand verstehen
  9. Ich schäme mich
  10. Ich habe Angst zu gehen



1. Nur ich kann ihn verstehen

2. Nur ich kann ihn heilen

3. Unsere partnerschaft ist etwas besonderes

Den ersten drei Punkten ist gemeinsam, dass die Partnerschaft mit einem missbrauchenden Partner als etwas besonderes und einzigartiges empfunden wird. Ich empfinde mich als die einzige Person, die diesen Mann verstehen kann. Ich weiß viel über ihn, ich kenne seine Vergangenheit, er hat mir sein Herz ausgeschüttet. Dadurch empfinde ich mich häufig sogar in der Position der Stärkeren in unserer Beziehung. Ich verstehe, was er durchgemacht hat. Dadurch kann ich allein ihm helfen. Es gibt Täter, die ihre Partner um Hilfe bitten oder um Geduld, die felsenfest und recht überzeugend darlegen können, dass sie sich ändern werden (siehe unten). Es gibt auch Täter, die dieses Bild des Bedürftigen und Schwachen nutzen, um die Partnerin zu binden und von einer Trennung abzuhalten. Manche drohen mit Selbstmord bei einer Trennung.

Fakt ist: Eine Partnerschaft ist keine Therapie und es ist nicht Deine Aufgabe, Deinen Partner zu therapieren und zu heilen.
Wenn Dein Partner eine Therapie braucht, sollte er zu Fachleuten gehen. Echte gleichberechtigte Partnerschaften, die auf Liebe beruhen, sind keine therapeutischen Beziehungen.



4. Er hat es nicht so gemeint

Dahinter steckt der Gedanke, dass der Partner Opfer seiner Triebe oder seiner schweren Vergangenheit ist oder z.B. seines derzeitigen Stresses auf der Arbeit. Er meint es nicht so. Er beschimpft mich oder schlägt mich, weil er seine Gefühle nicht im Griff hat. Eigentlich liebt er mich und tut mir das nur an, weil er noch nicht weiß, wie er ein anderes Ventil finden kann. Tatsache ist: Wenn ein erwachsener Mensch einen anderen demütigt, beschimpft oder schlägt, gibt es dafür keine Entschuldigung. UND: Es ist immer eine Entscheidung. Wenn der Täter seinen Gefühlen wirklich hilflos ausgeliefert wäre, würde er nicht nur seine Partnerin misshandeln, sondern auch mit anderen Menschen so umgehen. Außerdem: Wir alle haben mit schwierigen Emotionen zu kämpfen. Das heisst aber nicht, dass wir diese Emotionen als Anlass sehen, einen anderen Menschen zu misshandeln.

Auch wenn Du es nicht glaubst: DOCH er hat es genau so gemeint!



5. Er wird sich änderN

Ja, die Hoffnung stirbt zuletzt. Nach einer Wut- oder Gewaltattacke mag es sein, dass Dein Partner Reue zeigt oder sich entschuldigt. Häufig hören Frauen ein „es wird nie wieder vorkommen“. Es kann sogar sein, dass danach eine längere sehr schöne Phase folgt, die die Hoffnung stärkt, dass Besserung möglich ist. Daneben hört und liest man ja immer wieder, dass Menschen sich ändern können, dass der Frosch zum Prinzen wird, wenn man nur lange genug seine Launen aushält oder auch wenn man ihn richtig an die Wand klatscht – meint: sich wehrt, seinen Standpunkt klar macht, für seine Rechte und für Verständnis kämpft.

Die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter sich ändert, ist aber verschwindend gering.

Solange Du die Partnerschaft mit ihm aufrechterhälst besteht schon gar kein Grund für den Mann sich zu ändern oder ernsthaft über sein Verhalten nachzudenken. Es mag sein, dass Du viel mit ihm diskutierst und er sogar Verständnis zeigt für Deine Position. Du kannst Dir aber sicher sein, dass die nächste Gewaltattacke folgen wird. Je länger Du in dieser Beziehung bleibst, desto kürzer werden die Abstände. Schärfe Deine Wahrnehmung für diese Situationen. Wische sie nicht als Lappalie oder Nebensächlichkeit hinweg. Beobachte sehr aufmerksam, was in diesen Angriffsphasen mit Deinem Partner und Dir passiert, wie verändert er sich verhält, welch anderes Gesicht er zeigt. Dieses Gesicht wirst Du immer häufiger sehen und er wird sich NICHT ändern!

Ein Täter hat nur eine Chance sich zu ändern, wenn er sich selbst unvoreingenommen und gnadenlos ins Gesicht sieht, voll und ganz die Verantwortung für seine Taten auf sich nimmt und aus eigenem Antrieb eine Therapie macht, die genau dieses Thema beinhaltet. Er muss sein Verhalten vollständig in Frage stellen. Die wenigsten Täter fühlen sich dazu veranlasst und motiviert. Sie sehen sich im Recht und sehen sich sogar häufig selbst als Opfer ihrer Partnerin, die sie nicht richtig liebt. Nach einer Trennung landen diese Männer häufig sehr schnell in einer neuen Partnerschaft und beginnen dieses „Spiel“ von vorne.


6. Ich liebe ihn und er liebt mich

Dieser Aussage liegt ein völlig falsches Bild von Liebe und Beziehung zugrunde. Es kann seine Ursprünge in der Kindheit beider Protagonisten haben. Dieses Zerrbild ergänzt sich bei den Partnern einer Missbrauchsbeziehung perfekt. Daher fühlt sich eine solche Beziehung in den friedlichen Phasen und manchmal auch in der Eskalation so intensiv und vertraut an. Es hat jedoch nichts mit leidenschaftlicher Liebe zu tun, wenn Dein Partner Dich demütigt und/oder schlägt. Auch wenn es nur so wimmelt von romantischen Büchern und Filmen, die genau diese „Leidenschaft“ zum Thema haben: Es gibt bei dieser Love-Story kein Happy End.


7. Wir haben gemeinsame Kinder

Es kann ein großer Hinderungsgrund für eine Trennung sein, dass man sich Sorgen um die Folgen für die eigenen Kinder macht. Tatsache ist aber: ob sichtbar oder unsichtbar – Kinder leiden massiv unter der Partnerschaftsgewalt zwischen ihren Eltern. Selbst wenn sie nicht dabei sind, wenn Dein Partner Dich demütigt oder schlägt, spüren sie die Spannungen in der Familie. Das Miterleben von Gewalt in ihrer Familie kann Kinder nachhaltig traumatisieren. Außerdem prägt es ihr Bild von Beziehung und Partnerschaft und kann wiederum ihre eigene Gewaltbereitschaft als Erwachsene verstärken. Insofern ist eine Trennung in jedem Fall weniger schädlich für die Kinder, als das Verbleiben in dieser Beziehung.

Eine weitere, nicht unberechtigte Sorge ist, dass die Kinder nach der Trennung in der väterlichen Umgangszeit länger mit dem Täter allein sind. Desweiteren kann der Täter nach der Trennung die Kinder in der ein oder anderen Form instrumentalisieren, um weiter Macht und Gewalt über seine Ex-Partnerin auszuüben. Täter können sehr geschickt im Umgang mit Jugendämtern und Gerichten sein. Es empfiehlt sich daher, sich so früh wir möglich, evtl. sogar schon vor der Trennung beraten zu lassen und das Jugendamt zu informieren. Häufig sitzt der Partner, der sich als erstes meldet am längeren Hebel. Je nachdem wie der Täter sich verkauft, kann so eine Strategie aber auch voll nach hinten losgehen. Hier ist sehr sensibel nach einer Strategie und Lösung zu suchen. Manchmal kann es sogar besser sein, keine Ämter und Anwälte einzuschalten.


8. Mich wird niemand verstehen

Das ist eine berechtigte Sorge. Nur wenige Menschen können verstehen, warum man in einer Beziehung bleibt, die quält. Umgekehrt kann es sein, dass das gesamte Umfeld Unverständnis zeigt, dass Du Dich trennst. Es mag zum Beispiel sein, dass die Außendarstellung der Beziehung eine ganz andere war als das, was innerhalb der eigenen vier Wände ablief. Der Partner mag sich nach außen als toller Typ und Vater verkauft haben. Es mag sein, dass er sich bei der gesamten (vor allem ferneren) Bekanntschaft und Verwandtschaft beliebt gemacht hat. Es mag sein, dass die sich trennende Frau erstmal um ihre Glaubwürdigkeit kämpfen muss.

An diesem Punkt musst Du Dich leider endgülitg davon verabschieden, jemals noch einmal ein heiles Partnerschafts- und Familienbild nach außen zu vertreten. Du gehst einen sehr unbequemen Schritt in Deine eigene Freiheit. Damit machst Du Dich gleichzeitig frei von vielen gesellschaftlichen Konventionen. Du kannst anecken. Für Außenstehende kann Deine Trennung unangenehm sein. Denn Du lebst die Möglichkeit vor, Dich aus unerträglichen Lebenssituationen befreien zu können, selbst über Dein eigenes Leben entscheiden zu können. Gerade Frauen die sich trennen, erleben auch nach einer gewalttätigen Partnerschaft, dass sie insbesondere von anderen Frauen angefeindet werden oder Unverständnis erleben. Du kannst davon ausgehen, dass Du in Deiner Entscheidung in Frage gestellt wirst. Bereite Dich darauf innerlich vor.

Aber mache Dir klar: diesen Schritt tust Du für Dein eigenes Glück und für Dich selbst. Du bist unglaublich mutig und stark, diese Entscheidung zu treffen. Und dieser Schritt wird Dir auch für andere Lebenssituationen Stärke geben. Dein Schritt aus dieser Beziehung ist ein Riesenschritt in Deine eigene Freiheit.

Halte es mit Janis Joplin: „Freedom is just another word for nothing left to lose.“


9. Ich schäme mich

Viele Frauen schämen sich vor sich selbst und vor anderen, das Scheitern der Beziehung zuzugeben. Sie fühlen sich verantwortlich für den Verlauf der Beziehung und sie wollen nicht im schlechten Licht da stehen vor anderen. Mache Dir klar: Du bist nicht verantwortlich für das Verhalten Deines Partners. Du hast jegliches Verständnis und jegliche Unterstützung verdient. Deine Trennung ist ein großer und mutiger Schritt in die Freiheit. Dafür musst Du Dich nicht schämen.


10. Ich habe Angst zu gehen

Es ist in einigen Fällen berechtigt, Angst zu haben vor der Trennung. Nicht selten bricht bei den bisher latent gewaltbereiten Partnern die Gewalt voll aus, wenn die Frau geht. Daher solltest Du Dich nicht scheuen, Dir so viel Unterstützung zu suchen wie möglich.

  • Bereite Deine Trennung möglichst gut vor, sichere wichtige Unterlagen und organisiere Dir ein Auffangnetz für die Zeit danach.
  • Informiere nahestehende und vertraute Verwandte oder Freunde und sichere Dir ihre Unterstützung
  • Sichere Deine Wohnung (tausche z.B. das Schloss aus) oder suche Dir für eine gewisse Zeit eine Unterkunft, die Dein Ex-Partner nicht kennt.
  • Besorge Dir eine neue Handynummer und eine neue E-Mail-Adresse
  • Schalte die Polizei ein (bei den meisten Polizeidienststellen gibt es spezielle Ansprechpartner für Opfer häuslicher Gewalt)
  • Suche Dir einen Anwalt, der sich mit der Thematik gut auskennt.
  • Lass Dich von einer örtlichen Beratungsstelle für Opfer häuslicher Gewalt oder telefonisch (kostenlose Nummer des Hilfetelefons Häusliche Gewalt 0800 116 016) beraten.
  • Gehe in ein Frauenhaus (an ein Frauenhaus kannst Du Dich auch wenden, wenn Du nur Beratung suchst)
  • Lasse Dich bei einer Frauenberatungsstelle beraten

In anderen Fällen bleibt es nur bei Drohungen des Ex-Partners oder einem unguten Gefühl. Es kann hilfreich sein, sich zu outen und so vielen Menschen wie möglich im Umfeld zu erzählen was geschehen ist. Dadurch wird dem Täter sein Deckmantel genommen.

Die Angst sollte Dich in jedem Fall nicht daran hindern, diese Beziehung zu verlassen.

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