Ein schöner Gedanke Über Jungen und was sie brauchen

InAlleinerziehend, Familienbild, Kinder
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In meiner Facebook-Timeline taucht mit schöner Regelmässigkeit der außerplanmäßige, nicht lehrende Professor Gerald Hüther auf. Und inzwischen beschleicht mich bei seinem Anblick großes Unbehagen. Er wird von allen Seiten nur belobhudelt, getätschelt und bewundert, wenn er mit seiner rauchigen Stimme über die Schwierigkeiten der heutigen Kinder sinniert, ADHS als Hirngespinst abtut, sagt, was Jungen brauchen, neue Schulformen fordert und überhaupt. Alle hängen an seinen Lippen, seine Veranstaltungen sind ausgebucht und man hört kaum ein kritisches Wort. So etwas macht mich schonmal von vornherein skeptisch.

Der Text, den ich zuletzt lesen durfte und der mit schöner Regelmässigkeit in meiner Facebook-Timeline auftaucht, ist ein Interview mit ihm in der FAZ mit dem schönen romantischen Titel „Das beste wäre ein richtig guter Vater.“ In diesem Interview dreht es sich darum, warum Jungs sind wie sie sind, warum sie (angeblich) mehr Schwierigkeiten in der Entwicklung und in der Schule haben als Mädchen etc. pp. All die Plattitüden über Jungen und Männer, die man gerne so liest, aber die nicht unbedingt richtig sind, werden hier bestätigt.

Am schönsten ist dieser Teil des Interviews:

„Ich finde es großartig, wenn es mittlerweile Väter gibt, die wirklich Verantwortung übernehmen für die Bindung und Führung ihrer Kinder im Sinne von supportive leadership. Aber das sind noch immer sehr, sehr wenige. Probleme haben wir bei den vielen Jungs, die ohne gute männliche Vorbilder heranwachsen.

Deshalb wünsche ich mir viel mehr erwachsene Männer, die sich für diese Jungs einsetzen. Die sich zur Verfügung stellen. Die diese Jungs einladen, ermutigen und inspirieren, mit ihnen gemeinsam zu entdecken, was Mannsein bedeuten kann. Die mit ihnen auf Berge steigen, in Flüssen angeln, mit modernen Medien irgendetwas Großartiges gestalten, in den Zirkus gehen, was auch immer. Die Hauptsache ist das gemeinsame Erlebnis, dass es Spaß macht, ein authentischer Mensch zu werden. Ich plane eine Initiative, die genau solche Mentoren vermittelt.“

Es wird ein wunderschönes klassisch-romantisches Bild gemalt von Jungen, die mit ihrem Vater oder anderen Männern auf Berge steigen und in Flüssen angeln. Hach ja, wie schön. Ein schöner Gedanke. Mir wird aber beim Lesen dieses Textes komisch und ich frage mich, warum.

Ich habe zwei Söhne von zwei Vätern. Um diese Söhne kümmern sich die Väter äußerst selten. Auch wenn ich mich umschaue, erlebe ich kaum Familien, in denen der Vater sich wirklich Zeit nimmt für seinen Sohn, um mit ihm etwas zu unternehmen. Viele Väter und andere Männer sind auch 2015 noch die längste Zeit des Tages im Büro oder auf Geschäftsreise. Manche sind die ganze Woche auf Montage. Auch in stinknormalen Mittelstandsfamilien sehen Söhne ihre Väter also nur eine eingeschränkte Zeit des Tages – wenn überhaupt. Die „neuen Väter“ sind beispielsweise auf dem platten Land, wo ich zur Zeit wohne, eine Seltenheit. Meine Stadtfreundinnen berichten mir auch nicht von viel Vater-Sohn-Zeit. Die Freizeit verbringen die Männer meiner Freundinnen lieber mit Freunden oder beim Sport. In Deutschland erziehen mehr und mehr Mütter ihre Kinder allein – Tendenz steigend. Schaue ich in meiner Familiengeschichte zurück war schon meine Oma alleinerziehend mit zwei Söhnen. In Nachkriegszeiten war das keine Seltenheit. Mein Vater war alleinerziehend mit zwei Töchtern (komisch, dass da nicht spekuliert wird, dass aus diesen Mädchen nichts wird). Pedro Almodóvar, ein bekannter spanischer Regisseur sagt, dass er nur unter Frauen aufgewachsen ist und dass es gut so war.

Ich habe mich nach der Trennung von den Vätern meiner Söhne – u.a. wegen solcher Artikel wie der von Herrn Hüther –  mit der Frage herumgequält, ob meine Söhne nun gute Männer werden können ohne Väter. An meiner letzten Beziehung habe ich unter anderem aus dem Grund sehr lange festgehalten. Ich wollte, dass mein Sohn einen Mann um sich hat. Aber dieser Mann ist immer wieder nicht gut mit meinem Sohn umgegangen. Und zu seinem eigenen Vater wollte mein Sohn aus verschiedenen Gründen nicht mehr wirklich, obwohl ich versucht habe, daran etwas zu ändern. Das schönromantische Bild des Vaters (oder Mannes) von Herrn Hüther, der mit seinem Sohn (oder Stiefsohn) angeln oder zelten geht, hat es bei uns nie gegeben. Besagte Männer und Väter fanden anderes wichtiger.

Ich kann also nun davon ausgehen, dass laut Herrn Hüther aus meinen Jungs ja nichts werden kann, weil ihnen die männlichen Vorbilder fehlen. Ich als Frau kann daran nichts ändern. Das wurmt mich.

Nun möchte ich aber provokant mal ganz andersherum fragen: warum kann ein Junge das authentische Menschsein nur von Männern lernen? In unserem Haushalt sind meine Mutter und ich handwerklich begabt und zeigen den Jungs wie das geht, die Männer spielen keinen Fußball, keiner will angeln gehen, wandern ist auch nicht beliebt und kein Vater zeigt auch nur das geringste Interesse daran, seinem Sohn den Umgang mit dem Computer zu zeigen. Das mache ich. Was ist überhaupt ein authentischer Mensch á la Hüther? Können nur Männer Jungen authentisches Verhalten vermitteln? Ich muss ehrlich gesagt feststellen, dass die Väter und Männer in der direkten Umgebung meiner Söhne keine Meister im authentischen Dasein sind – außer das heißt, dass man sich erstmal hauptsächlich um sich selbst kümmert als erwachsener Mann.

Warum meint Herr Hüther, dass Jungs automatisch Probleme haben, wenn kein Mann zur Stelle ist, der zu „supportive leadership“ (ohweia!) fähig ist? Traut er am Ende den Jungen so wenig zu? Was ist denn ein gutes, männliches Vorbild? Wäre es nicht viel besser zu sagen, „gutes menschliches Vorbild“ – unabhängig vom Geschlecht?

Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, dass Männer – auch wenn sie Väter sind – sich nicht automatisch väterlich verhalten. Es ist auch nicht so, dass alle Männer wirklich gute Vorbilder für Jungen sind. Im Gegenteil müssen Jungen vor manchen Vätern und Männern in Führungsrollen, die z.B. Trainer sind oder Lehrer, geschützt werden. Es gibt außerdem Jungen, Herr Hüther, die gar kein Interesse an dem typischen „Mannsein“ haben (was ist das überhaupt? Gibt es dann auch das typische Frausein?). Ich finde, dass Jungen eher lernen sollten, dass sie vieles sein dürfen, dass sie sich nicht in das enge Mannsein-Korsett zwängen lassen sollten. Und ich glaube, das können sie nicht nur von Männern lernen und auch nicht nur vor Jungen. Das lernen sie genausogut von Müttern, Schwestern, Freundinnen, Omas, Lehrerinnen und Erzieherinnen, die auch heute noch häufig eine viel längere Zeit des Tages mit ihnen zusammen sind.

Ja, auch ich fände es schön, wenn sich mehr Männer kümmern würden um Kinder – nicht nur um Jungen. Aber wie gesagt: nur weil sie Männer sind, heißt das nicht, dass sie gute Vorbilder sind. Da gehört schon mehr dazu, vor allem Zeit und Interesse, Einfühlungsvermögen und Liebe und sehr viel Geduld und Altruismus. Ich freue mich immer, wenn ich Männer erlebe, die intensiv Zeit mit Kindern verbringen, die ihnen etwas vermitteln. Ich freue mich auch über die wenigen Stunden, die meine Söhne mit ihren Vätern haben. Ich beneide Frauen, deren Männer sich bemühen um ihre Kinder. Aber leider erlebe ich das nach wie vor sehr selten. Vielleicht wohne ich in der falschen Ecke von Deutschland.

Außerdem: Aus dieser Forderung von Hüther folgt, dass Männer ihr Leben ziemlich umkrempeln müssten. Nicht nur das: unser ganzes System müsste sich ändern. Wenn Männer diese Aufgabe übernehmen sollen, müssten sie definitiv weniger arbeiten. Sie müssten die Interessen ihrer Kinder ihren Arbeitgebern gegenüber durchsetzen. Sie müssten evtl. mit weniger Geld auskommen oder sogar mit einem Verlust ihrer Arbeit leben. Wollen das viele Männer wirklich? Wollen das die Arbeitgeber wirklich? Allerorten geht es ja inzwischen eher darum, wie die Kinder möglichst passend gemacht werden für unser Wirtschaftssystem. Vater und Mutter sollen und wollen beide arbeiten. Es wird also eher so bleiben, dass Väter und Männer wenig Zeit mit Kindern verbringen.

Meine Meinung ist: Jungs brauchen MENSCHEN, die authentisch sind – genauso wie Mädchen. UND: alleinerziehende Frauen und Frauen und Mütter, die den Großteil des Tages allein mit den Kindern sind, sollten bestärkt werden in ihrem Selbstbewusstsein statt ihnen über solch unrealistisch-romantische Ideen zusätzlich Angst um ihre Söhne zu machen und damit Kraft zu rauben. Auch Frauen können Jungen gute Vorbilder sein, wie man ein authentischer Erwachsener sein kann.

2 Kommentar

  1. Ein toller Artikel, der mir aus dem Herzen spricht. Mein Sohn hat von mir alles gelernt, was laut Klischee der Vater ihm hätte beibringen sollen. Ich glaube ebenfalls, dass unsere Gesellschaft und Arbeitswelt sich schleunigst ändern muss, damit Frauen nicht länger die Hauptlasten des sozialen Zusammenlebens tragen. Ausserdem sollte such dringend etwas daran ändern, dass Männer glauben, ein Recht auf Sex ohne Verantwortung zu haben. Das nämlich ist der Grund für all die Alleinerziehenden Frauen

  2. Ich gebe zu, der Name Hüther sagte mir nix. Darüber bin ich auch froh, mein Hals hätte sicher sonst die Ausmaße wie von einem Gewichtheber …
    Wir haben das Glück, einen engagierten Papa von Mini zu haben. Nur … Rollenklischees bedient er nicht. Er macht die Dinge mit Mini, die den beiden eben Spaß machen und das sind völlig andere Sachen, als ich sie mit Mini mache. Und so kann Mini aufsaugen von beiden Elternteilen und das ist gut so.
    Dass das aber eine Ausnahme ist, kann ich nur bestätigen. Auch in meinem Bekanntenkreis (und da ist es egal ob alleinerziehend oder nicht) sind die Väter eher sporadisch präsent. Und kaum einer lässt von seinem Egoismus ab und wendet sich dem Kind (Tochter oder Sohn, egal!) zu.
    Ja, diese Kinder lernen: wenn ich Papa werde, werde ich Egoist. Super. Ganz großes Kino.

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