Alleinerziehend, früher Ode an die Oma

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Meine Oma erinnere ich als eine lustige und herzliche Frau. Sie sprach Fränkisch, war klein und kugelrund und drückte uns mit voller Kraft gegen ihren Busen, wenn wir mit ihr auf der Couch saßen und Kreuzworträtsel lösten oder fernsahen. Ich habe sie nie eine Hose tragen sehen. Sie trug Kleider und Röcke und Strümpfe mit Strumpfband und in der Küche eine Kittelschürze. Ihr langes, graues Haar war zu einem Dutt zusammengesteckt – eine Oma wie aus dem Bilderbuch. Sie lebte allein in einer kleinen Wohnung bis sie im Alter in ein Heim umzog, weil sie sich nicht mehr allein versorgen konnte.

Als ich Kind war, gab es in dieser Wohnung noch einen Kachelofen im Wohnzimmer und einen Ofen in der Küche. Im Bad stand ein riesiger Boiler. Das Schlafzimmer war im Winter eiskalt. Sie schleppte jeden Tag die Kohlen aus dem Keller, um anzuheizen. Wenn man ihre Schränke öffnete, war alles piekfein geordnet. Überall war spürbar, dass sie sparsam lebte. Tüten wurden sorgfältig gefaltet aufbewahrt, Einwickelpapier (Geschenkpapier) wurde wiederverwendet, Socken gestopft. Sie verfügte über keinen Luxus. Bis ins hohe Alter fuhr sie Fahrrad und Bus. Als sie älter wurde, begann sie, vieles zu verschenken. „Das brauche ich nicht mehr,“ sagte sie. Früh hatte sie sich auch schon ihr Grab reserviert und sogar den Grabstein anfertigen lassen. Es ist ein praktischer Grabstein. Er bedeckt das gesamte Grab. So muss niemand ihr Grab pflegen. Auch ihren Platz im gewünschten Altersheim hatte sie sich schon sehr früh reserviert.Trotz ihrer sparsamen Lebensweise beschenkte sie uns großzügig. Sie hatte sogar einen Sparplan für uns angelegt für unsere Ausbildung.

Auf der ganzen Linie war sie also sehr pragmatisch und patent. Sie machte sich keine Illusionen. Aber dabei wirkte sie nie verbittert. Sie trank gern ein Bier, lachte laut und gern, aß gern deftig und hatte viele Freundinnen, die sie regelmässig besuchte. Eine ihrer wenigen Auslandsreisen ging nach Italien wegen der Hochzeit meiner Cousine. Ansonsten war sie vor allem in Deutschland unterwegs. Auch wenn meine Oma aus einfachen Verhältnissen kam, las sie viel. In ihren Regalen standen Klassiker von Tolstoi und Dostojewski – und das nicht nur zur Dekoration. Sie hat diese Bücher, die im Dritten Reich verboten waren, mit großem Interesse gelesen.

Als Kind wirkte sie auf mich wie ein ruhender Fels in der Brandung. Sie kochte wundervolle Suppen, z.B. eine Grießnockerlsuppe, die wir jedesmal bekamen, wenn wir sie besuchten. Wenn wir keinen Nachschlag wollten kam immer ein „Schmeckt’s Dir etwa ned?“ und dann lachte sie und gab noch einen Schöpfer in den Teller („a wengala“ hieß das bei ihr). Wir erfragten häufig die besonders lustigen fränkischen Wörter, z.B. „ozulds Buttlas Ba“ oder „terra Gaas“ oder „Marmeladenamala“. Wir sprachen das nach und lachten uns kringelig.

Erst als sie vor einigen Jahren starb, erfuhr ich mehr über die dunkle Seite ihres Lebens. Es wurde deutlich, wie verzweifelt sie häufig war und wie einsam. Ihr Mann war im Krieg gefallen. Seinen zweiten Sohn – meinen Vater – hat er nie wirklich kennengelernt. Meine Oma war also schon sehr früh mit einem Fünfjährigen und einem Säugling auf sich gestellt. Da ihr Mann zunächst lange Jahre als vermisst galt, bekam sie keine Witwenrente.

Zum Glück hatte sie einen Beruf gelernt: sie war Schneiderin. Mit dieser Arbeit hielt sie ihre kleine Familie über Wasser. Wenn ich mir vorstelle, wie hart es gewesen sein muss in den Kriegs- und Nachkriegsjahren allein mit dem Schrecken, der ungewissen Zukunft und der allgemein schwierigen Lebenssituation zurechtzukommen und dann noch unter solchen Bedingungen, erscheinen mir meine heutigen Probleme sehr, sehr klein. Meine Oma war de facto eine Alleinerziehende in einer Zeit, in der man dieses Wort so noch nicht kannte. Soweit ich weiß, gab es in dieser Zeit nur wenig bis gar keine staatliche Unterstützung für diese Frauen. Man musste sich gegenseitig helfen.

Mein Vater erzählt, dass er häufiger bei meinem Uropa war und dass sie einen Schrebergarten hatten. Auch meine Oma hatte einen Schrebergarten. Dort wurde Obst und Gemüse angebaut. Der Uropa hielt Hühner. Dadurch mussten sie viele teure Lebensmittel nicht kaufen.

Meine Oma ging den ganzen Tag arbeiten. Sie fuhr zu reichen Leuten nach Hause und nähte dort Kleider und anderes nach Auftrag. Gut habe ich in Erinnerung, wie sie erzählte, dass sie Pailletten an ein Kleid nähen musste und was das für eine aufwändige Arbeit war. Die beiden Söhne ließ sie häufig lange Zeit allein zu Hause. Mein Vater erzählt, dass es einen Vorhang in der Wohnung gab, hinter dem die beiden Jungs auf ihre Mutter warten mussten. Meine Oma hatte wohl eine Schreckensgeschichte erzählt, was passiert, wenn sie allein durch diesen Vorhang gehen. So hielt sie ihre Söhne zu Hause, wenn sie nicht da war. Einen Kindergarten gab es nicht und wahrscheinlich mussten die Urgroßeltern auch arbeiten. Es ging nicht anders. Später ging mein Vater nach der Schule zu seinem Opa. Hort und Ganztagsschule: Fehlanzeige.

Dass ihr Leben ohne Mann ein Makel war, hat sie uns nie vermittelt. Wie sich das jedoch gesellschaftlich für sie darstellte, weiß ich nicht. Dass eine Frau allein mit ihren Söhnen lebte, war ja nicht wirklich üblich, trotz vieler Kriegswitwen. Es gab den ein oder anderen Verehrer, den die Söhne aber nicht zulassen wollten. Sie hat sich dann wohl mit ihrer Situation arrangiert. Aber sie muss oft am Rande ihrer Kräfte gewesen sein – besonders am Waschtag, wie mein Vater erzählte, denn Waschen war damals noch eine für uns heute unvorstellbare Schwerstarbeit. Da war sie dann wohl ungenießbar. Auch sonst muss es Momente in ihrem Leben gegeben haben, wo sie gern mit allem abgeschlossen hätte, weil es einfach zu viel war. Aber sie hat durchgehalten.

Als sie kurz vor der Entscheidung stand, ins Altersheim zu gehen, sagte sie zu mir, dass sie jetzt gut sterben könnte. Sie hätte alles erlebt, ein schönes Leben gehabt. Sie war dann aber noch viele Jahre im Heim und verlor in dieser Zeit immer mehr ihre Erinnerung. Das war für manchen Besucher schwer. Ich dachte jedoch, dass sie nach ihrem Leben jegliche Schwäche verdient hat, dass sie nicht mehr funktionieren muss, dass sie jetzt einfach mal alt und schwach werden darf. Leider habe ich sie viel zu wenig besucht und mich viel zu wenig gekümmert. Sie hätte das wohl auch nicht eingefordert, denn sie hat immer für sich selbst eingestanden und wenig von anderen Menschen erwartet und verlangt.

Für mich ist diese Erinnerung immer wieder wichtig – besonders, wenn alles gerade besonders schwer wirkt. Ich glaube, viele von uns haben solche Omas oder Uromas, die trotz schwierigster Lebensbedingungen ihren Kindern ein gutes Leben ermöglicht haben und damit wiederum uns den Weg ins Leben geebnet haben. Diese Frauen haben häufig aus der Not eine Tugend gemacht und konnten mit wenig Besitz einigermaßen glücklich leben.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es etwa eine Million Kriegerwitwen aus beiden Weltkriegen in Deutschland. Erst Anfang der 1950er Jahre erhielten sie etwas finanzielle Unterstützung über die Kriegsopferversorgung.

Sie wurden einerseits von den Ämtern als Bedürftige angesehen, die über private Angelegenheiten Auskunft geben mussten. Andererseits hatten sie aber auch für ihre Kinder zu sorgen. Das Bundesfamilienministerium propagierte zu dieser Zeit die sogenannte Normalfamilie, in der die Witwen aber nicht zu integrieren waren, denn sie sollten, entsprechend dem damaligen Frauenbild Enthaltsamkeit und Zurückhaltung üben, auch in Bezug auf das Arbeitsleben.
Weil sie bei einer Wiederverheiratung ihre Rente verloren hätten, lebten Kriegerwitwen eher mit einem Mann unverheiratet zusammen (so genannte Onkelehe).
Quelle: Wikipedia

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Inspiriert wurde dieser Beitrag von Kurt Saar-Schnitt, der in Anbetracht der vielen Vorbehalte gegen Flüchtlinge in unserem Land die Fluchtgeschichte seiner Oma erzählte. Ein Blick zurück in die eigene Familiengeschichte lohnt sich, um unser heutiges Leben in Wohlstand und Frieden wertzuschätzen und eine andere Perspektive zu gewinnen auf unser eigenes Leben und auf Menschen, die heute unsere Hilfe brauchen.

3 Comments

  1. Hallo Rona, eine schöne Geschichte. Aber eine Ergänzung: Die meisten Frauen waren damals allein und blieben es auch – einfach weil der Zweite Weltkrieg viele (mehrere Millionen) Soldaten-Opfer – also Männer – gefordert hatte. Man blieb ohne Mann, auch schlicht aus dem Grund, weil es eben keine Männer in dieser Altersgruppe gab, bzw., die die überlebt hatten, ja meist schon verheiratet waren. Es gab sehr, sehr viele Kriegswaisen, sehr viele alleinerziehende Mütter. Das führte aber auch dazu, dass Frauen sich gegenseitig mehr unterstützten und sich miteinander beschäftigten auch die Bindung zu den Kindern war oft eine enge. Das hatte durchaus was für sich. Aber diese Zeit lässt sich eben nicht mit heute vergleichen.

    Über meine Oma: https://mamiberlin.wordpress.com/2014/05/19/mein-vorbild-in-sachen-alleinerziehend/

    • Liebe Verena,
      danke für Deinen Kommentar und für den Link zu dem Beitrag über Deine Oma. Interessant, dass Deine Oma auch alleinerziehend war. 🙂
      Nein, die Zeiten kann man nicht vergleichen. Soweit ich mich aus Erzählungen erinnern kann, hat meine Oma Unterstützung von ihrer Familie erhalten. So sehr viel Unterstützung wie nötig gewesen wäre, hatte sie aber sicherlich nicht. Sie hatte wohl schon auch einen ernsthaften Verehrer. Dem hat sie aber den Laufpass gegeben, weil die Söhne ihn nicht akzeptierten.
      Ich denke, dass insbesondere die damalige Haltung zu schwierigen Lebensbedingungen mit ausschlaggebend war: man jammerte und beklagte sich nicht und sprach nicht über seine Probleme. Daher habe ich auch erst nach ihrem Tod erfahren, wie schlecht es ihr oft ging und wie hart ihr Leben für sie war. Darüber hat sie nicht mit vielen Menschen gesprochen. Heute können wir offener über unsere Schwierigkeiten sprechen. Das ist ein Vorteil. Und wir haben mehr Möglichkeiten der staatlichen Unterstützung – wenn das auch immer noch lange nicht ausreichend ist und der Status „alleinerziehend“ häufig immer noch etwas von einem Makel hat.
      So ein Rückblick ist für mich eine Chance zu lernen: wie haben andere das gemeistert? Wie hat sie das geschafft damals? Und es macht mir Mut und schenkt mir auch wieder etwas mehr Bescheidenheit und eine andere Perspektive auf meine heutigen Schwierigkeiten.
      Herzliche Grüße
      Rona

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