Vom Guten des Schlechten Über den Umgang mit schlechten Gefühlen

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„Also, wir haben keine Probleme. Das gibt es bei uns nicht.“

„Ich weiß nicht, was Du hast. Ich habe kein Problem. Das Problem hast Du.“

„Du fährst doch nur wieder einen Film.“

„Schlecht drauf sein können wir uns nicht leisten.“

„Jetzt reiß Dich mal zusammen.“

„Sei doch einfach mal glücklich und zufrieden!“

„Sei doch nicht so negativ!“

Ich weiß nicht, ob Du auch schon viele solcher Sätze gehört hast von Deinen Eltern, von Deinem Partner, von Deinen Freunden. Allgemein ist es nicht gern gesehen, wenn jemand „schlecht drauf“ ist oder wenn jemand Probleme hat, mit denen er nicht allein fertig wird. Eine ganze Ratgeber-, Coach- und Therapeuten-Industrie lebt davon, dass das „Schlecht-drauf-Sein“ abgearbeitet wird und der Vergangenheit angehört. Es wird mit Affirmationen gearbeitet, an Stellschrauben im Mindset gedreht, Sport und Yoga gemacht und tagelang meditiert. Es muss denen doch beizukommen sein, diesen unangenehmen Gefühlen des Nicht-Genügens, des Klein-Seins, des Scheiterns, des Alles-nicht-im-Griff-habens, des Traurig-Seins, der Wut-im-Bauch. Es geht schon so weit, dass bestimmte Lebenszustände und Gefühle nicht beim Namen genannt werden sollen, weil sie angeblich das Mindset vergiften. „Alleinerziehend“ ist zum Beispiel so ein Wort, das angeblich den Zustand des Alleinseins und des „Probleme-Habens“ manifestiert. Also darf man das möglichst nicht sagen – auch nicht innerlich –, auch wenn es der Wahrheit entspricht.

Bin ich eine Pessimistin?

Ich habe immer wieder die Rückmeldung bekommen, dass ich so negativ denke und so pessimistisch bin. Das kam besonders gern von Menschen, die sich selbst als Optimisten bezeichnen und über fast jedes schlechte oder unsichere Gefühl ihrer Mitmenschen mit einem „Stell Dich nicht so an“ oder „Sei doch mal positiv“ hinwegfegen. Ich selbst hatte dadurch lange große Selbstzweifel und hielt mich für eine hoffnungslose Pessimistin. Heute weiß ich, dass das so nicht wirklich stimmt. Ich bin nur nicht besonders gut darin, mir etwas vorzumachen und ich lasse mich nicht gern in ein Gut-Drauf-Programm quetschen. Wenn ein Großteil Deiner Kindheit darin besteht, in ein Gut-Drauf- und ein Funktionier-Programm gequetscht zu werden und Du erlebst, dass manche Deiner Gefühle nicht erwünscht sind, kann die Rebellion und Emanzipation darin liegen, depressiv zu werden und gar nichts mehr zu können und zu machen.

Auf dem Selbstoptimierungs-Tripp

Da ich lernte, dass meine Zweifel und Gefühle schlecht waren, versuchte ich mich zu optimieren und las viele Bücher und besuche Seminare zum positiven Denken. Dabei fühlte ich mich insgeheim immer unbehaglich. Ich spürte, dass ich das auf Dauer nicht einhalten kann, dass ich wieder Zeiten erleben werde, wo es mir schlecht oder sehr schlecht geht. Lange habe ich mich deswegen unfähig gefühlt, weil ich die „negativen“ Gedanken und Gefühle einfach nicht zuverlässig wegdrücken konnte. Das positive Denken ging mir auf die Nerven. Ich fühlte mich unter Druck, endlich gut zu funktionieren. Aber mein Hirn und mein Herz machten das nicht mit.

Als ich vor Jahren eine Therapie machte, riet mir die Therapeutin, mich einfach mal auf meine depressiven Gefühle einzulassen, mich einfach mal hinzulegen und auszuruhen, statt immer weiter gegen die Müdigkeit zu kämpfen. Das kam mir regelrecht revolutionär vor und war damals ein erster und für mich sehr ungewöhnlicher Schritt. Mir zu erlauben, einfach mal zu liegen, war wunderbar. Ich durfte endlich freundlich zu mir sein. Diese Freundlichkeit zu mir selbst war mir fremd. Ich war sehr stark darauf konditioniert zu funktionieren und keine Schwäche zu zeigen. Dass ich mir dabei Gewalt antat, war mir gar nicht klar.

Auf meiner Suche nach dem Glück begann ich dann mit Yoga, das mir schon einige sehr wirkungsvolle Techniken an die Hand gab. Dann ging ich zu mehreren Meditationsseminaren der Vipassana-Meditation mit einem sehr anspruchsvollen Zeitplan: An 10 Tagen wird etwa 11 Stunden am Tag im Sitzen meditiert und zwar im vollkommenen Schweigen und ohne mit den anderen Teilnehmern in Kontakt zu treten. Ich meinte es also durchaus ernst mit meinem Willen zum Glücklichsein.

Zunächst erlernt man eine Technik, mit der man seinen Geist beruhigen und konzentrieren kann. Danach folgt dann die eigentliche Vipassana-Meditationstechnik, die Gleichmut und Achtsamkeit trainiert. Das Sitzen in diesen Kursen kann nach kürzester Zeit sehr schmerzhaft sein, obwohl es keine rigide Vorgabe für die Sitzposition gibt und obwohl man die Haltung wechseln darf. Aber egal, ob auf dem Stuhl oder auf dem Boden oder mit dem Rücken an der Wand: Ich rutschte hin und her, versuchte eine bessere Sitzposition zu finden, kämpfte mit der Unruhe im eigenen Geist und wurde mit allerlei sehr unangenehmen Gefühlen konfrontiert. Der Kampf mit meinem eigenen Geist und meinen eigenen Gefühlen und Gedanken dauerte etwa vier bis fünf Tage. Am vierten Tag wurde von uns verlangt, dass wir eine Stunde ohne Bewegung sitzen sollen. Ich dachte, das schaffe ich nie. Überhaupt fand ich diese Forderung eine Zumutung. Dennoch versuchte ich es. Die Schmerzen kamen. Ich gab das Kämpfen aber auf. Ich begann, die Schmerzen nur noch zu beobachten, wahrzunehmen und sein zu lassen. Und plötzlich verloren die Schmerzen ihre Macht über mich. Plötzlich konnte ich eine Stunde ohne Bewegung sitzen und die Schmerzen wurden schlagartig weniger. In diesem Moment verstand ich, wie mächtig unsere Gedanken und Gefühle sind. Ein Großteil meines bisherigen Schmerzes kam offensichtlich vom Kampf gegen meine Gefühle und Gedanken. Sobald ich die Gefühle zulassen und einfach wahrnehmen konnte – egal, ob sie angenehm oder unangenehm waren – war der Kampf beendet und die Schmerzen konnten gehen.

Das Zauberwort hieß also Gleichmut und Akzeptanz, und zwar allen Gefühlen gegenüber.
UND: Gefühle und Gedanken sich nicht beständig. Sie sind also nicht sooo wichtig wie sie sich häufig aufspielen.

Alle Gefühle bewusst erlauben

Passend zu meinen Erkenntnissen aus der Mediation kamen in den letzten Jahren einige therapeutische Ansätze auf. Dazu gehört die Acceptance and Commitment Therapie (ACT) und die Radikale Erlaubnis.

Es gibt zu ACT mehrere wundervolle Bücher. Eines davon hat den bezeichnenden Titel „Wer dem Glück hinterherrennt, läuft daran vorbei. Ein Umdenkbuch“ und wurde von Russ Harris geschrieben. Der deutsche Verhaltenstherapeut Matthias Wengenroth schrieb das durchaus lustige Buch mit dem etwas schwülstigen Titel „Das Leben annehmen. So hilft die Acceptance and Commitment Therapie“. In diesem Buch wird schon auf den ersten Seiten der „Think Positive!“-Ansatz auseinandergenommen. Es wird dargelegt, warum das nicht sonderlich gesund ist. Unser Gehirn funktioniert in Teilen immer noch wie das eines Höhlenmenschen. Das Gehirn ist u.a. dafür zuständig, uns vor Gefahren zu warnen und auf Schwierigkeiten aufmerksam zu machen. Ängste sind hilfreiche Gefühle für den Selbstschutz. Nur hat unser Gehirn nicht verstanden, dass wir uns heute nur noch in seltenen Fällen in Lebensgefahr befinden. Die Hinweise unseres Gehirns und unserer Gefühlswelt sind also durchaus freundlich gemeint, in den meisten Fällen in ihrem Ausmaß aber völlig übertrieben. Der Lösungsweg für den Umgang mit schwierigen Gefühlen liegt hier darin, diese Gefühle freundlich zu betrachten, sie wahr- und anzunehmen und sich dennoch nicht durch diese Gefühle daran hindern zu lassen, seinen Weg weiterzugehen. Wengenroth hat dazu in seinem Buch sehr lustige Illustrationen, wo die Angst zum Beispiel einfach mitgenommen wird in den Sonnenuntergang, anstatt sie zu bekämpfen.

Die Radikale Erlaubnis von Mike Hellwig arbeitet in einer sehr direkten und körperlichen Weise mit dem Bauchgefühl und dem inneren Kind. Mir persönlich tat schon allein das Wort „radikale Erlaubnis“ gut, als ich es zum ersten Mal las. Auch hier geht es darum, sich alle Gefühle „radikal“ zu erlauben und sich ihnen zu stellen – egal ob sie angenehm oder unangenehm sind. Es geht darum, die körperliche Wahrnehmung von Gefühlen zu verfeinern und über die Akzeptanz dieser Gefühle liebe- und friedvoller mit sich selbst umzugehen. Mike Hellwig hat ein interessantes Modell der inneren Welt entwickelt, in dem die sogenannten Wächter in Form von starken Zweifeln, Widerständen und Ängsten einen Zugriff des Bewusstseins auf die Gefühle des inneren Kindes verhindern, um diesen sehr verletzten und verletzbaren Teil in uns zu schützen. Den Wächtern ist nicht durch Kampf und Ablehnung beizukommen, sondern nur durch Achtsamkeit und Akzeptanz. Er beschreibt Gefühle und Gedanken als Gäste, die uns besuchen und die wir alle willkommen heißen und anhören sollten. Durch das Konzept des Gastes identifizieren wir uns nicht mehr mit unseren Gefühlen und Gedanken und können daher besser mit ihnen umgehen. Mike Hellwig wurde in der Entwicklung der radikalen Erlaubnis von vielen verschiedenen therapeutischen Ansätzen inspiriert – u.a. von der Traumatherapie von Peter A. Levine. Der bekannte Traumaforscher hat einige sehr interessante Bücher geschrieben. Aus den Erkenntnissen seiner Forschung hat er eine Therapie entwickelt, die Trauma über körperliche Empfindungen heilen kann.

All diesen noch recht neuen Ansätzen ist gemein, dass sie die schlechten Gefühle nicht mehr pathologisieren und wegschaffen wollen, sondern sich ihnen stellen. Es wird nicht optimiert und wegtherapiert, sondern es wird Bewusstheit, Achtsamkeit und Akzeptanz geübt. Schlechte Gefühle werden als Potential gesehen, nicht als Schaden. Die Therapie und Heilung geschieht häufig durch die bewusste Wahrnehmung und Akzeptanz der gegenwärtigen Empfindungen im Körper. Es geht darum, das JETZT zuzulassen – egal wie es sich gerade darstellt.

Du bist nicht Deine Gefühle

Ich bin inzwischen der festen Überzeugung, dass es wichtig ist, die unangenehmen, unerwünschten und schlechten Gefühle aus ihrem Kellerdasein zu befreien. Das bedeutet nicht, dass man sich in seine Gefühle fallenlässt. Wenn ich zum Beispiel zügellos meine Wut laufen lasse, schade ich höchstwahrscheinlich mir selbst und anderen. Wenn ich mich in meiner Trauer vergrabe, finde ich mich nur noch schwer hinaus ins Leben. Aber wenn ich diese Gefühle am laufenden Band verdränge, verleugne oder bekämpfe, werde ich höchstwahrscheinlich ein sehr anstrengendes und nicht sonderlich glückliches Leben haben. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die schlechten Gefühle umso größer und stärker werden, je mehr ich gegen sie tue. Sobald ich aber den Kampf aufgebe und sie einfach da sein lasse und wahrnehme, kann ich mich entspannen. Und wenn ich mich entspanne, können diese Gefühle gehen oder sind zumindest nicht mehr so übermächtig stark.

Wenn ich heute in meiner Freundinnen-Begleitung erlebe, dass Frauen Schwierigkeiten haben, mit ihren Gefühlen der Wut, Verzweiflung und Trauer nach einer Trennung umzugehen, versuche ich sie darin zu unterstützen, geduldiger und freundlicher mit sich selbst umzugehen. Viele Frauen fragen, wie lange es denn z.B. dauert bis eine Trennung bewältigt ist und es ENDLICH aufhört mit den schlechten Gefühlen. Mein Rat ist hier, sich von diesem sehr belastenden Leistungsdruck zu befreien und sich dem Gedanken zu stellen, dass es vielleicht NIE ganz vorbei ist und dass man auch sehr lange traurig oder wütend sein darf. Aber man muss sein Leben nicht von diesen Gefühlen bestimmen lassen, denn Du bist nicht Deine Gefühle. Es kann sehr entspannend sein, wenn man sich diese Gefühle erlaubt. Sie dürfen raus aus dem Keller und erstaunlicherweise können dann nach meiner Erfahrung die Zeiten länger werden, wo sie einfach nicht mehr da sind. Die schlechten Gefühle verlieren in dem Moment ihre Macht, wo sie angenommen werden.

10 Merksätze, die mir helfen. Dir Auch?

  Mit positivem Denken kannst Du Dir Gewalt antun, weil Du einen Teil von Dir verleugnest.
  Gib den Kampf gegen Gefühle und Empfindungen auf, weil sie durch Bekämpfen stärker werden.
  Erlaube Dir alle Gefühle, weil das entspannt.
  Du bist nicht Deine Gefühle, weil Deine Gefühle sich ständig verändern.
  Betrachte Gefühle und Empfindungen als willkommene Gäste, weil Du dann besser mit ihnen umgehen kannst.
  Schlechte Gefühle haben eine Botschaft für Dich, wenn Du ihnen zuhörst (z.B. „jemand hat meine Grenzen überschritten“; „jemand tut mir nicht gut“; „ich brauche Zeit für mich“; „in mir ist etwas verletzt und braucht Zuwendung“ etc.)
  Akzeptiere Deine schlechten Gefühle, weil sie dann keine Macht mehr über Dich haben.
  Nimm Deine schlechten Gefühle mit, weil Du bestimmst, wo Du lang gehst.
  Wenn Du Dich in ein Gefühl verrennst, halte inne und spüre, wie sich das Gefühl im Körper äußert oder konzentriere Dich auf die Atmung, weil Du Dich dann nicht mehr mit dem Gefühl identifizierst.
  Sei geduldig und freundlich mit Dir, weil Du umdenken und viel üben musst, um Dein Verhaltensmuster zu ändern.

In diesem Video erklärt Jeff Foster sehr eindrücklich, wie man mit seinen unerwünschten Gefühlen umgehen kann und dem Gedanken „Warum tut es immer noch so weh?“

 


Der Titel des Blogposts ist eine Umkehrung eines Buchtitels von Paul Watzlawick mit dem Titel „Vom Schlechten des Guten“. Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen, wenn man verstehen will, warum man sich teilweise völlig in schlechten Gefühlen und Gedanken verrennen kann und wie sehr auch dieses Verhalten wahrnehmungsgesteuert ist.


Bild: Pixabay

 

5 Kommentar

  1. Sehr schön beschrieben. Ich bin kürzlich, rein zufällig ohne Lektüre von Büchern, sondern vom Leben mit der Nase drauf gestoßen, auch an diesen Punkt der Akzeptanz gekommen. Schlechte Gefühle zuzulassen als Gäste finde ich ein schönes Bild. War bei mir in der Kindheit nicht gestattet bzw. nicht gerne gesehen, und habe ich mir selbst auch lange nicht erlaubt. Dann aber wuchsen mir all diese unterdrückten Gefühle irgendwann über den Kopf, im schlimmsten Fall kann das eine Depression herbeiführen, wie ich lernte. Und damit ist ja nun auch keinem geholfen. Also lieber alles zulassen, was an Gefühlen so vorbeikommt, und diese nicht so dramatisieren, ist mein Fazit. Jedenfalls so gut das geht. 🙂

    • Liebe Christine,
      danke für Deinen Kommentar. Der Text ist eine Sammlung der für mich wertvollen Erkenntnisse aus ganz unterschiedlichen Quellen. Es wäre schön, wenn das auch anderen hilft. Ich glaube einfach, dass es ganz wichtig ist, von diesem Selbstoptimierungswahn wegzukommen, hin zu einem freundlichen Umgang mit sich selbst – gerade, wenn man schwierige Lebenserfahrungen hinter sich hat. Auch für mich ist das eine konstante Übung und ich muss mich immer wieder an die wesentlichen Dinge erinnern. 🙂

  2. Liebe Rona,
    ich bin über eine kollegin auf deinen text gestoßen und finde ihn wunderbar!
    ich betreibe eine coachingpraxis für liebeskummer und ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich die frage nach der dauer bekomme. Wie lange dauert es noch bis ich endlich nicht mehr leide? und auf meine nachfrage erfahre ich dann, dass die trennung gerade mal ein paar tage her ist.

    ich gebe grundsätzlich keine antwort auf diese frage und arbeite auch immer mit der methode des annehmens. du kannst nur loslassen, was du vorher angenommen hast.
    liebe grüße!
    sabine

    • Liebe Sabine,
      vielen Dank für Deinen Kommentar. Es freut mich, dass Du das als Fachfrau so gut bewertest. Vielleicht hast Du mal Lust, einen Gastbeitrag zum Thema Loslassen und Trennung zu schreiben?!? Ich würde mich freuen.
      Herzliche Grüße
      Rona

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