„Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast,
sie macht deine Rose so wichtig.“
Dieser Satz stammt aus dem Buch „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry – ein schöner Satz, der verdeutlicht, wie wichtig Zeit und Engagement für Beziehungen ist. Der Satz hat aber auch eine dunkle Seite: Etwas, in das wir Zeit und Interesse investieren, wird wichtiger und stärker, selbst wenn es eigentlich nicht gut für uns ist. Eine Pflanze, die ich gieße, wächst. Ob es eine Rose oder Unkraut wird, merke ich erst, wenn die Pflanze größer ist.
„Wenn es sich um eine schädliche Pflanze handelt, muss man die Pflanze beizeiten herausreißen, sobald man erkannt hat, was für eine es ist.“
In den letzten Wochen ist das Thema Gewalt an Frauen wieder überall zu lesen und zu hören, wobei es vielerorts von Rassismus überdeckt wird. Im Rahmen der Diskussion um die Ereignisse in Köln in der Silvesternacht 2015/2016 gab es in den sozialen Medien viele Diskussionen. Unter anderem ging es darum, warum Menschen so etwas tun – ob es am Alkohol liegt, oder an einer lustfeindlichen Erziehung, oder am Islam, oderoder. Warum vergewaltigen Männer Frauen? Leben sie ihre unterdrückte „Lust“ in Gewalt aus? (Wobei ich hier betonen möchte, dass es bei Vergewaltigung nicht um Lust, sondern um Macht und Unterwerfung geht).
Auch wenn Menschen sich aus einer Gewaltbeziehung befreien, gibt es diesen Wunsch verstehen zu wollen, warum ihnen ein Mensch Gewalt angetan hat. Es ist einfach so unfassbar, wie aus einer Liebesbeziehung Gewalt entstehen kann. Es ist jenseits der Vorstellungskraft, warum ein Mensch einen Menschen abfällig behandelt oder schlägt, den er angeblich liebt.
Im Verstehenwollen liegt eine Hoffnung:
- „Er hat einen guten Kern.“
- „Er meint es doch eigentlich nicht so.“
- „Er hatte eine schwere Kindheit.“
- „Es liegt an seinem Glauben oder seiner Erziehung.“
- „Wir lieben uns doch.“
Es liegt auch ein Wunsch darin, das Unfassbare greifen zu können und sich nicht eingestehen zu müssen, dass man selbst ein Opfer wurde und der andere Täter.
Aber: Der Fokus auf die Motive des Täters und seine vielleicht sogar irgendwie nachvollziehbaren Gründe halten IN der Beziehung. Derjenige, dem Gewalt angetan wird, kreist um denjenigen, der Gewalt anwendet. Unbemerkt gibt er dem anderen durch sein Interesse Energie.
- „Warum tut er das?“
- „Ist er vielleicht psychisch krank / depressiv / narzisstisch?“
- „Was braucht er, um zu heilen?“
- „Was kann ich für ihn tun? Wie kann ich ihm helfen?“
- „Wie kann er sich nur so verhalten?“
- „Es muss doch Gründe geben…“
- „War er immer so?“
So oder ähnlich können die Gedanken um die Motive des gewalttätigen Partners kreisen.
Die Suche nach Gründen, ist eigentlich die Suche nach einer Lösung. Wo ist der Knackpunkt, über den man den Partner wieder erreicht und über den eine Heilung und Veränderung möglich ist? Man möchte die Hoffnung nicht aufgeben, am Ende doch noch eine glückliche Beziehung miteinander zu führen. Man glaubt vielleicht, dass Liebe doch eigentlich alles heilen müsste. Man sehnt sich nach einem „Happy End“.
Man geht vielleicht ins Gespräch mit dem anderen, äußert seine Bedürfnisse und versucht, die Bedürfnisse des anderen zu verstehen. Irgendwann beginnt man vielleicht auch zu streiten. Man möchte durchdringen zu dem anderen.
- „Er muss doch verstehen, dass es nicht richtig ist, was er tut.“
- „Er sagt doch, dass er mich liebt und alles für mich tun würde.“
- „Wir haben doch auch so viele schöne Zeiten.“
- „Es muss doch möglich sein, dass wir unsere Probleme in den Griff bekommen.“
- „Er hat sich doch entschuldigt. Es wird bestimmt besser.“
Die Wahrheit ist: Gespräche, Diskussionen und Streitereien mit einem gewalttätigen Partner führen zu nichts. Sie gehen ins Leere, weil der andere sich jeglicher Auseinandersetzung entzieht. Oder sie führen zu einer zunehmenden Verdrehung der Tatsachen, weil der andere mir geschickt meine Wahrnehmung verwirrt. Der gewaltanwendende Partner stellt sich z.B. selbst als Opfer dar und fühlt sich auch so. Das eigentliche Opfer soll sein Verhalten ändern. Damit wird die Verantwortung geschickt verschoben.
Wenn ich mich als Partnerin eines gewalttätigen Partners wirklich lösen, trennen und befreien möchte, muss ich das Verstehenwollen beenden.
So lange ich noch verstehen möchte, warum der andere so handelt wie er handelt, gehe ich innerlich von einem berechtigten Motiv aus. So lange ich mich um seine Motive drehe und um die Gründe, warum er so wurde wie er ist, liegt mein Fokus auf ihm, nicht auf mir. Auch wenn ich mich schon getrennt habe, bleibe ich in Wahrheit innerlich noch in der Beziehung, so lange ich immer noch mit ihm beschäftigt bin.
Ich bleibe ebenso immer noch in der Beziehung, wenn ich z.B. beginne, ihm wutentbrannte Briefe zu schreiben, in denen ich ihm erkläre, wie es wirklich war. Es gab Momente, wo ich mich – weil ich die Dynamik endlich verstanden hatte – danach sehnte, ihm alles zu erklären und ihm zu zeigen, dass ER etwas an SICH tun muss. Besonders stark kann dieser Wunsch sein bei gemeinsamen Kindern. Ich wollte ihm helfen, sich zu bessern. Oder ich wollte endlich einmal klar stellen, dass ich nicht Schuld bin und wünschte mir, dass er das endlich versteht. Ich habe aber verstanden, dass ich auch diesen Wunsch getrost begraben kann. Ich habe Briefe geschrieben. Aber ich habe sie nicht abgeschickt.
Ob er mich wirklich jemals verstehen wird, steht in den Sternen. Auch ob er sich selbst eingesteht, ein Problem mit Gewalt zu haben, ist ungewiss. Die Wahrscheinlichkeit ist gering. Und selbst wenn er sein Handeln irgendwann verstehen sollte, muss er diesen Erkenntnisprozess selbst durchlaufen. Ich kann ihm dabei nicht helfen. Ich kann mit ihm nichts klären.
Was ich tun kann, ist meinen Fokus komplett auf mich selbst zurückzulenken.
- Was kann ich tun, dass es mir besser geht?
- Wer kann mir helfen, meine Erlebnisse zu verarbeiten?
- Was wünsche ich mir für meine Zukunft?
- Wie kann mein neues Leben ohne diese schädliche Beziehung aussehen?
- Was tut mir gut?
- Was macht mir Hoffnung?
Die Gießkanne der Aufmerksamkeit, mit der ich ihn und seine Verhaltensweisen bisher bedacht habe, kann ich auf mich selbst richten und mir selbst in positiver Weise Interesse und Energie zukommen lassen. Er hat mein Interesse und mein Verständnis nicht mehr verdient. Ich muss ihn nicht verstehen, denn das hilft mir nicht und ihm ebensowenig. Mir hilft, zu mir selbst zurückzufinden, eine gesunde Distanz aufzubauen und meine Energie für mich selbst einzusetzen. Ich muss und möchte nicht mehr alles verstehen. Ich möchte auch nicht mehr eine therapeutische Funktion für Menschen übernehmen, die mir nicht gut tun. Dafür fühle ich mich nicht mehr zuständig und verantwortlich. Für mich war das ein wesentlicher Schritt in meiner Befreiung.
Bild: Pixabay, cogitusergiosum
Sehr toller und treffender Text. In dem Moment, in dem ich nicht mehr nach dem „Warum“ fragte, fühlte ich mich befreit.
Wie jedoch rede ich mit meinem Sohn darüber. Ich möchte ihm seinen Vater nicht madig machen. Ich möchte ihn aber schützen, davor dass er noch mehr Schaden davon trägt. Ich bin mir noch unsicher, wie ich mit meinem Sohn (11) darüber reden kann. Habt ihr einen Rat für mich?
Liebe Keeva,
vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich bin zu meinen Söhnen in kindgerechter Form ehrlich und erkläre ihnen alles, was sie wissen wollen, dränge ihnen aber widerum meine Wahrheiten nicht auf. Dein Sohn muss seinen eigenen Weg finden, mit seinem Vater umzugehen. Es muss ja nicht so sein, dass der Vater auch mit ihm schlecht umgeht. Wenn das aber der Fall sein sollte, würde ich ihn immer in seinen Gefühlen und seiner Wahrnehmung bestärken und ihm nichts schönreden. Ich habe dazu auch mal etwas geschrieben. Vielleicht magst Du das mal lesen: https://phoenix-frauen.de/keine-maerchen/
Herzliche Grüße und alles Gute
Rona